Die göttliche Schreckschraube

betr.: Lotte Lenya zum 33. Todestag

Dieser Beitrag basiert auf meinem Unterricht „Musicalgeschichte.

Beim Musical geht es bekanntlich um die Zusammenführung von Tanz, Gesang und Schauspiel – im Gesamtkunstwerk ebenso wie in der Arbeit des einzelnen Darstellers. Und da nicht zu jeder Zeit alles gleichzeitig in vollem Umfang geschehen kann, ist das nötige Maß, die Balance zwischen den Elementen, mitunter fast wichtiger als die Zutaten – ähnlich wie bei Coca Cola.
Nun war Lotte Lenya keine große Tänzerin, und ihr Gesang niemals schön, aber sie verstand es ausgezeichnet, singend zu schauspielern.° Und das Wort „schauspielern“ ist hier eine Untertreibung!
Lotte Lenya ist zunächst einmal die Originalinterpretin der Seeräuberjenny in der „Dreigroschenoper“ – 1928 wurde sie mit einem Schlag (oder besser „Hieb“) berühmt, als sie in ihrer Rachevision jenes „Schiff mit acht Segeln“ ankündigte, dem hundert Piraten entsteigen sollten, die ihr zuliebe alle ihre Peiniger köpfen würden, „und wenn dann der Kopf rollt, sag‘ ich: Hoppla!“
Sie war die zweimalige Ehefrau und dann lange Jahre die Witwe von Kurt Weill, dem Komponisten der „Dreigroschenoper“ und einiger der bemerkenswertesten Musicals des „Golden Age“ am Broadway°° – Lenya hat einige seiner Songs auf einer Langspielplatte versammelt.
Sie ist natürlich auch die lesbische Ex-KGB-Spionin, die in „Liebesgrüße aus Moskau“ James Bond mit ihren vergifteten Schuhspitzen zu pieken versucht, Rosa Klebb. Und das „Fräulein Schneider“ in der Urbesetzung des Musicals „Cabaret“ – in der Filmversion ist die Rolle zur Komparsin geschrumpft, im Stück ist sie neben dem Conférencier der eigentliche Angelpunkt. Außerdem war Lotte Lenya 1966 eine Zeitzeugin aus jenem spät-weimarer Berlin, das in „Cabaret“ den Schauplatz der Handlung stellt.

Ich würde hier und heute aber vermutlich nicht über sie nachdenken, wenn sie nicht außerdem eine so köstliche Komödiantin gewesen wäre. Und wiederum war sie gleichzeitig (siehe oben) berührend, fies und gruselig, Trägerin einer Botschaft – je nachdem, was gerade gefordert war.
Die schlechte Nachricht: es ist wieder einmal frühes Leid, dass dieses darstellerische Vermögen geformt hat. Die 1889 als Karoline Blamauer ins Wiener Elendsmilieu hineingeborene Lenya, wurde als Kind vom Vater misshandelt, prostituierte sich schon mit elf auf dem Kinderstrich und wurde wenige Jahre später von einer Tante gerettet, die sie nach Zürich mitnahm und zum Tanzunterricht schickte. Bald spielte sie Statistenrollen am Zürcher Schauspielhaus und hatte nach jeder Vorstellung ein anderes schneidiges Groupie: häufig Offiziere, oftmals reife bessere Herren. 1921 wechselte sie nach Berlin, in eine Stadt, die damals jene Rolle spielte, die ihr heute noch so passen könnte: Europas Kultur- und Subkulturmetrople. Lenya lebte von den Zuwendungen ihrer zahlreichen Liebhaber und dem Erlös eines Juwelenraubs.

Drei Jahre später folgte der Anschluß zur Geschichte: die Begegnung mit dem ebenfalls bisexuellen etwa gleichaltrigen Kurt Weill, der eine Art Mutant ihrer wichtigsten Bezugsfiguren wurde: Liebhaber und (gütige) (künstlerisch-intellektuelle) Vaterfigur. – Sogar für ihre weiterhin wilden Eskapaden hatte er Verständnis. Die beiden heirateten, feierten einige rauschende Erfolge mit Bertolt Brecht, ließen sich auf der Flucht vor den Nazis scheiden, ließen sich in New York nieder und heirateten dort erneut – ihre Korrespondenz füllt ein backsteindickes Buch*, das von tiefer Zuneigung Zeugnis ablegt. Diese Liebesgeschichte endete 1950 mit Weills frühem Tod.

Am Ende von Lenyas Weg finden sich die angemessen grotesken Anekdoten eines rauschenden Bohèmelebens: zwei weitere Ehen mit tragisch veranlagten Künstlern, ihr kerniger Umgang mit der Krebsdiagnose – sie trug den Sack, in den ihr Blasenkatheter mündete, in einer Einkaufstüte herum – ihre Busenstraffung, zehn Monate vor dem absehbaren Ende. Und natürlich: ein paar famose Plattenaufnahmen mit einer unbeschreiblichen Stimme, in die sich Glanz und Elend des 20. Jahrhunderts eingekerbt haben.


° Hier sind wir schon mitten in der Kunst des Chanson-Vortrags, die uns ein andermal beschäftigen wird.

°° Näheres dazu im Blog vom 26.9.2014
* „Sprich leise, wenn du Liebe sagst“, Kiepenheuer & Witsch, 1998

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