„Der kleine Toks und die Königin der Inseln“

betr.: 96. Geburtstag der Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung (Degesch) / Leseprobe

Dies ist ein weiterer Auszug aus “Die Hummel, die zuviel wußte”, das parallel als Hörspiel und als Kinderbuch entstanden ist.°
Was bisher geschah:
Herma hat das Landleben satt, und außerdem versucht ihr Nachbar, der Borkenkäfer, sie für Politik zu begeistern – und daran hat sie nun gar kein Interesse. Als Hummel hat sie zum Glück einen weniger vollen Terminkalender als ihre Kollegen, die Bienen. So beschließt sie, die Sommerferien für eine Bildungsreise zu nutzen. In der Nähe ihrer Wiese, so erzählt man sich, soll es ein altes Bauernhaus geben, in dem ein richtiger Mensch lebt. Er bewirtschaftet den Hof nicht, aber immerhin kommt er aus der Stadt – und das ist so ziemlich das Fremdartigste und Geheimnisvollste, was eine kleine Hummel sich vorstellen kann. Eines Morgens fliegt sie also los, und tatsächlich erkundet sie das Grundstück und schließlich sogar das Haus. Hier trifft sie eine Reihe von Insekten, die sich auf das Zusammenleben mit dem Menschen eingestellt haben.
Zuletzt zeigt ihr der nette Silberfisch sein großes Privatmuseum und stillt Hermas Wissensdurst.
Nun ist der Tag des Aufbruchs gekommen. Herma kann es kaum erwarten, heimzukehren und mit ihrer Bildung anzugeben.
Doch plötzlich stellt sich ihr ein Hindernis in den Weg …

Und dann war plötzlich Fehlanzeige!
Das Fenster, das vorhin noch großzügig gekippt gewesen war, musste der Mensch inzwischen zugemacht haben – trotz der sommerlichen Hitze. Hermas Weg nach draußen war versperrt!
Nun gut: sie hätte den Weg durch die Wohnung nehmen können, aber das war ihr viel zu gefährlich. Schließlich kannte sie ja überhaupt nicht aus, am Ende hätte sie sich noch verflogen. Und auch sonst: wer konnte schon sagen, was für seltsame Gesellen noch an diesem Ort hausten, und ob sie nicht vielleicht etwas feindseliger waren, als die bisherigen Passanten, die ihren Weg gekreuzt hatten?
Mutlos setzte sie sich auf den Fensterrahmen.
„Na, kleine Hummel? Wer hat dich denn hier verloren?“
„Huch! Wer spricht da?“
Herma fuhr herum. Ein effektvoller kleiner Käfer saß hinter ihr.
„Ich bin Toks, der Kartoffelkäfer. Man nennt mich auch Colorado-Käfer, aber das ist mir ein bisschen zu förmlich!“
Der Hummel blieb die Spucke weg! Mein Gott, der war ja vielleicht süß!
Herma war so bestürzt von dem kleinen Kerl, dass sie irgendetwas sagen wollte – bloß, dass er nicht dachte, sie wäre langweilig – Gott behüte!
„Toks ist ja ein sehr kurzer Name“, brabbelte sie.
„Ja. Meine Eltern waren sehr kluge Leute!“ gab Toks zurück. „Durch einen kurzen Namen spart man im Laufe seines Lebens eine Unmenge Zeit. Und wer bist du?“
„Ich … öh … äh … mein Gott, was sag’ ich nur, was sag’ ich nur, was sag’ ich nur?“
„Wie bitte?“
„Ich bin die Hemmel Hurma – die Hummel Herma von der … bunten Wiese!“
„Ach ja, ein Insekt von draußen. Schon klar. Na, dafür dass du vom Land kommst, bist du gar nicht so übel …“

Soviel stand fest: dieser Käfer war ein schrecklicher Angeber, aber in gewisser Weise hatte er ja allen Grund dazu. Er sah wirklich zum Anbeißen aus mit seinen beigefarbenen, hübsch gemusterten elfenbeinfarbenen Flügeln und dem kecken Charlie-Brown-Pullover-Muster auf seinem Nackenschild.
„Und was machst du hier in diesem Haus. Gibt es denn hier drinnen überhaupt Kartoffelpflanzen?“
„Nein, aber wir Kartoffelkäfer schädigen jede Art von Nachtschattengewächsen. Der Mensch hier hat ein paar Eier-Auberginenbäumchen, und er züchtet sogar Tabakpflanzen. Aber nicht weitersagen – sonst bekommt er noch Ärger!“
„Ich sag keinen Ton, großes Ehrenwort!“
„Ja ja, schon gut!“
„Weißt du, wie ich hier vielleicht wieder rauskomme?“
„Ja klar! Hast du denn deinen Meldezettel mit?“
“Meldezettel?“
„Ja – ohne Meldezettel kommt hier keiner raus! Und wenn du keinen hast, dann dürftest du auch gar nicht hier sein!“
„Ach du Schreck! Ich hab gar nichts mit! Bitte, verpetz mich nicht – ich wollte doch nur, ich bin doch bloß, ich hab doch grade …“
„Nun hör schon auf, du Dumpfsummse. Ich hab doch nur Spaß gemacht.“
„Echt …? Na, also …“
Herma wusste jetzt nicht, ob sie ärgerlich oder erleichtert sein sollte.
„Der Mensch kommt bestimmt gleich wieder und macht das Fenster auf. Und da du ja bestimmt nicht so dumm bist wie die Schmeißfliege, die er vorhin plattgemacht hat … schaffst du es bestimmt nach draußen!“
Eine recht brutale Welt ist das, dachte Herma, aber das behielt sie lieber für sich.
Da riss Toks auf einmal die Augen auf, als hätte er ein Gespenst gesehen.
„Naaaain! Das glaub’ ich ja jetzt nicht! Kuck mal da!“

Ein gewaltiges, strahlendes Insekt schwebte über den beiden. Es war von einer raubtierhaft-gefährlichen Schönheit und hatte einen gewaltigen Unterleib. Noch hielt es einen gewissen Abstand, aber es hatte Herma und Toks unzweifelhaft bemerkt.
„Ach du liebe Zeit!“ stammelte Herma. „Diese Hornisse sieht ja zum Fürchten aus! Laß uns machen, dass wir wegkommen!“
„Ich bin ja entsetzt, was du für Vorurteile hast“, schimpfte Toks. „Das ist keine Hornisse sondern ein sogenannter Invasiv-Organismus, das seh’ ich doch sofort.“
„Inwaswas für ein Orginasmus?“
„Eine Tierart, die von weit her kommt und die hier fabelhafte Lebensumstände vorfindet!“
„Na, da hat sie aber Glück gehabt. Und was ist hier so fabelhaft umständlich?“
„Dass diese Tiere viel stärker sind als wir. Sie haben hier keine natürlichen Feinde. Ist das nicht wunderbar?“
„Kann schon sein.“
Ach ja, richtig. Der Käfer aus Colorado war ja auch ein Einwanderer. Daher dieses angeborene Talent für die Völkerverständigung!
„Ich werde jetzt mal das Begrüßungskomitee bilden“, sagte Toks, und er errötete fast ein bisschen – es war fast wie Weihnachten!
„Und benimm dich, damit du uns nicht blamierst!“ zischte er noch zu Herma nach hinten. Dann breitete er seine Krabbelbeinchen aus und rief: „Willkommen, bienvenue, Mahlzeit, du schöner Eindingling! Fühl dich wie zuhaus hinter unserer Fensterscheibe! Brauchst du einen eingeborenen Führer, dann will ich dein ergebener Diener sein!“
„Donnerwetter“, staunte Herma. Der kleine Charmebolzen hatte es aber wirklich drauf!

Langsam schwebte das schimmernde Insekt zu ihnen herunter. Es sah ein wenig libellenhaft aus, es funkelte in allen Regenbogenfarben.
„Seid mir gegrüßt!“ sprach es und deutete eine Verbeugung an, und Herma glaubte für einen Augenblick, einen spöttischen Zug um die beiden Zangen zu erblicken, die rechts und links aus seinen Mundwinkeln sprossen.
„Ich bin ganz schön aufgeregt!“ sagte der kleine Toks. „Sie müssen ein Invasiv-Organismus sein, nicht wahr?“
„Ganz recht, ihr ehrenwerten Winzlinge!“ sagte das funkelnde Insekt. „Ich bin ein kijapesischer Abschaumspinner.“
„Mich laust der Affe! Ein Besucher von den Koko-Kohula-Inseln!“
„So ist es, holde Ureinwohner. Ich heiße Dormammu und komme zu euch aus dem Land der nie untergehenden Sonne, dem Reich hinter der vorgehaltenen Hand. Auf Tafeln aus weißer Jade steht es geschrieben: Wo man summt, da lass dich ruhig nieder! Doch bei den Mottenkugeln der Kleopatra – wer seid denn ihr?“

„Ich bin Toks, und das ist die Hummel Herma!“
Nun begann auch Hermas Misstrauen zu weichen. „Das Eine muß ich ja sagen. So jemand Kultiviertes und Höfliches wie Sie habe ich noch nie getroffen!“
„Der Weise sagt: Sei niemals unhöflich, wenn du es nicht mit Absicht tust!“
Auch Toks wurde nun etwas lockerer.
„Ein Glück, dass Sie ein Männchen sind“, sagte er verschmitzt. „Ich habe gehört, dass eure Weibchen ziemlich gefährlich sind. Sie sollen blitzschnell zuschnappen und ihren kleineren Mit-Insekten die Köpfe abbeißen. Sogar, wenn sie gar keinen Hunger haben, sondern einfach so, aus reiner Bosheit. Ist das nicht zum Totlachen?“
„Ja, in der Tat, das ist es“, antwortete das fremde Insekt.
„Und noch komischer ist, dass du dich getäuscht hast, du Mücke mit dem Hirn eines Regenwurmes. Ich bin tatsächlich ein Weibchen, und ich habe einen Bärenhunger!“
Und mit einem schmatzenden Knacken hatte sie schon den hübschen Kopf von Toks zwischen ihren mahlenden Zangen zerpulvert.
Wenn Herma eine Hose angehabt hätte, das Herz wäre ihr hineingerutscht.
Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie die Sprache wiedergefunden hatte.

„Wie kannst du so etwas tun, du ruchloses Untier! Der kleine Toks war so ein netter Kerl! Du bist grässlich!“
„Bei den verbeulten Chitinpanzern meiner Vorfahren – das hatte er verdient. Er war böse!“ brummte die Insulanerin mit dem trügerischen Damenbass.
„Böse? Das lügst du doch! Ich kenne ihn drei Minuten länger als du, und er war ein total feiner Kerl!“
„Er war dumm, sonst wäre er nicht auf mein süßhölzernes Geraspel hereingefallen. Und wie spricht der Weise: Es gibt keine Dummheit, die nicht böse ist!“
Das war Herma zu hoch, und sie hatte auch keine Lust mehr auf diese geschraubten Weisheiten.
„Gemein war es trotzdem! Ist es das, was du hier tun willst? Immerfort Köpfe abreißen?“
„Von Zeit zu Zeit schon. Schließlich braucht ein Abschaumspinner-Weibchen viel Nahrung, wenn es die heilige Pflicht erfüllen will, 3000 Eier pro Tag zu legen!“
„3000 Eier? Das ist ja ekelig! Und warum denn gleich so viele?“
„Die Schamesröte überzieht meine lachfaltige Pausbacke. Aber ich habe eine Mission! Ich bin die einzige meiner Art, die diese weite Reise überlebt hat. Monatelang habe ich mir mit elendem Spinnengetier eine Yucca-Palme geteilt. O, ehrwürdiger Gott der Honigdiebe, es war eine vieltausendfache schmachvolle Pein. Doch siehe: es ist vollbracht! Und nun ist es an mir allein, unserem Gezücht zum Sieg zu verhelfen!“
„Ojemineh!“
„Und da mich die wohlgeformte Birne dieses Bonsai-Beutetiers keineswegs gesättigt hat, komme ich nun zu dir, oh vollschlankes Insekt der Hei…“
Herma hatte eben den gewaltigen Schatten bemerkt, der sich auf die beiden gelegt hatte, da sirrte es auch schon von oben her, und ein kräftiger Luftzug streifte sie.
Mit einem gewaltigen „Patsch“ sauste eine Fliegenklatsche nieder und glättete die Schaumspinner-Königin der Inseln, die sich eben noch so imposant aufgerichtet hatte – mitten im Satz.

Unbemerkt war der Mensch ins Zimmer gekommen, von dem Herma schon so viel gehört hatte – und ganz offensichtlich hatte er kein Herz für seltene Tierarten, aber eine Schwäche für ortsansässige.
„Eine Hummel“, rief er gerührt aus.
„Das einzige Insekt, mit dem man kuscheln kann!“
Hoffentlich sollte das ein Witz sein, dachte Herma – denn zum Schmusen war ihr jetzt wirklich nicht zumute – und außerdem war der Mann mit der Fliegenklatsche entschieden zu groß für ihren Geschmack.
Aber sie hatte Glück – es war wohl wirklich ein Scherz gewesen.
Der Mensch öffnete das Fenster viel weiter als es nötig gewesen wäre, und etwas unbeholfen mit den Pranken rudernd rief er: „Flieg, kleines Hummelchen! Flieg zurück zu seinem Bienenkorb!“

Eigentlich hätte Herma ihm gerne noch erklärt, das Hummeln nicht in Bienenkörben leben, aber die Gelegenheit zur Flucht aus diesem Tollhaus wollte sie sich nicht verquatschen – und noch ehe sie es selbst bemerkte, strebte sie schon mit emsigem Flattern der Heimat zu.
Sie blickte nicht ein einziges Mal zurück, und langsam wurde das Grundstück mit dem Menschenhaus unter ihr so klein wie selbst – und verschwand schließlich ganz.

° Fortsetzung des Blogs vom 21.12.2015

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