Die wiedergefundene Textstelle (22): Mrs. Gilberts Horror-Operette

betr.: 137. Geburtstag der Operette „H.M.S. Pinafore“

Die in dieser Reihe präsentierten Texte sind kleine Schauspiel- bzw. Vorsprechmonologe, die von der (pädagogischen) Fachwelt übersehen / abgelehnt werden, weil sie nicht aus den üblichen Quellen stammen. Sie teilen sich nach meiner Einschätzung auch ohne die hier gelieferte Hinführung auf die eine oder andere Weise mit.

Der Mike-Leigh-Film „Topsy Turvy“* beschreibt die kurze Schaffenskrise der bedeutendsten englischsprachigen Operettenkomponisten, der Herren Gilbert & Sullivan. Die Handlung trifft sie im London des Jahres 1884 an: ausnahmsweise haben die zwei einen Flop geliefert, d.h. das von Arthur Sullivan vertonte Libretto William Schwenck Gilberts ist durchgefallen: „Princess Ida“. Mr. Sullivan nimmt sich diesen Ausrutscher zum Anlaß, die Seichtigkeit zu beklagen, in die die beiden im Laufe Der Jahre geraten seien und die Partnerschaft aufzukündigen, um sich ambitionierteren, „ernsten“ Projekten zu widmen – eine herablassende Haltung gegenüber den eigenen Erfolgen, die in der Musik- und Theatergeschichte viele Beispiele hat.
Schließlich fällt Gilbert der „Mikado“ ein, Sullivan wird noch einmal umgestimmt, und die Partnerschaft um einige ruhmreiche Jahre verlängert – soweit der Kurzinhalt.
„Topsy Turvy“ ist nicht nur ein berührender Einblick in das Theatermilieu, er beleuchtet auch ganz am Rande die gesellschaftlichen Abgründe des Viktorianischen Zeitalters.
In einem der drei kleinen Epiloge des Films sehen wir Mr. Gilbert auf der Bettkante seiner ergebenen aber körperlich ungeliebten Frau sitzen. Allabendlich sprechen die beiden miteinander – sie schon unter der Decke, er noch vollständig bekleidet – ehe er sich in sein Schlafzimmer zurückzieht. Mrs. Gilbert schafft es nicht, ihre Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung direkt zu kommunizieren (darauf bezieht sich freilich ihre Suggestivfrage nach seinen Gedanken) und verpackt ihre Gemütsverfassung in die folgende Schilderung.
Es ist die Nacht nach der gefeierten Premiere des „Mikado“.

Mrs. Gilbert: Ich sollte wohl lieber wie eins Schauspielerin auf der Bühne empfinden. Wäre es nicht wundervoll, wenn ganz normale Mitmenschen sich am Ende eines Tages gegenseitig applaudieren würden? (klatscht in die Hände) „Du warst gut, Kittie! Du warst gut!“
Danke, Willie!
Nein, bitte geh‘ nicht!
Schießen dir vielleicht irgendwelche Gedanken durch den Kopf?
… Was du als nächstes schreiben wirst?
Du müsstest vielleicht mal etwas ganz anderes und Ungewöhnliches schreiben!
Weißt du, du solltest eine junge, hübsche Heldin haben, … die alt und grau wird. Und so, wie sie allmählich immer älter und älter wird, werden die Chordamen immer jünger und jünger.
Es ist natürlich eine Burleske. Sie beginnt mit dem Herrenchor. Ein Chor dicker, fetter Blutsauger.
Nein, nein, es wären Gentlemen!
Und sie sitzen in ihren Kutschen, und die Kutschen rasen über die Bühne. Die Pferde müssten über die Bühne galoppieren! Und die Damen müssten hinterherlaufen, und die Herren würden überhaupt nicht zuhören, weil sie alle viel zu beschäftigt sind.
Und auf der Bühne, da gäbe es Dutzende von Türen und tickende Uhren, und er hat ihr mal den Schlüssel versprochen!
Aber er gibt ihn ihr nie.
Er ist ihr Ehemann, nehme ich an. Der Held.
… Nein, nein, nein, nicht der Held!
Ach, was soll’s?
Eines Tages … nein – eines nachts sagt sie sich: „Heute versuche ich, die Tür zu öffnen!“ Und die Tür öffnet sich – sie war überhaupt nicht verschlossen.
Und sie steigt die Treppe hinauf, und dort – am endlosen Strand – sind hunderte Kindermädchen dabei, leere Kinderwagen immer hin- und herzuschieben.

Und jedesmal, wenn sie versucht, geboren zu werden, dann erwürgt er sie mit ihrer Nabelschnur.

Mr. Gilbert: Ich glaube nicht, dass Mr. Sullivan das besonders gefallen wird.
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* Der deutsche Nachtitel des Films „Auf den Kopf gestellt“ ergibt m. e. keinen Sinn. Ich vermute, „Topsy Turvy“ ist hier nicht wörtlich zu verstehen sondern bezieht sich auf die zweistöckige Torte dieses Namens, die stilistisch sehr gut zu den Kostümen und Bühnenbildern paßt, die wir im Film zu sehen bekommen.

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2 Antworten zu Die wiedergefundene Textstelle (22): Mrs. Gilberts Horror-Operette

  1. Daniela ILIAN sagt:

    Hier etwas, das Dich in obigem Sinne bestimmt zum Schmunzeln bringt 🙂
    https://youtu.be/zSGWoXDFM64

    • montyarnold sagt:

      Hallo, Daniela – wirklich ein köstlicher Film. Die Briten müssen sich zu der Zeit, da sie Weltmeere im Griff hatten, über sich selbst köstlich amüsiert haben. Selbst für heutige Verhältnisse ein beachtlicher Spagat.

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