Himmelfahrt mit Blechschaden

betr.: 47. Todestag von Cornell Woolrich
Cornell Woolrich hat eine Reihe von Kriminalromanen geschrieben, von denen einige im Kino des film noir wiederkehrten. Die prominenteste Verfilmung ist jedoch in Technicolor: „Fenster zum Hof“ von 1954. Dieser Film stand Pate bei meinem bis dato ambitioniertesten Bühnenprogramm: ausnahmsweise ein Einpersonenstück, kein Kabarettprogramm. Der namenlose Held verläßt seine Wohnung nur im äußersten Notfall. Er ernährt sich von Heimarbeit und teilt währenddessen mit dem Publikum die Geschichte, die ihn vom „Fan der Menschheit“ zum Eigenbrötler werden ließ. Zuletzt verpuppt er sich und wird zum Superschurken. Am Klavier saß Florian Noack.

Orpheus in der Einbauküche

„Orpheus in der Einbauküche“ schilderte keineswegs mein Privatleben, aber ihm entstammt der folgende autobiografisch gefärbte Text, der auch im Rundfunk und als Stand-Up-Monolog zum Einsatz kam.

Meine Eltern beschlossen um die Zeit meiner Volljäh­rigkeit herum, ich müsse nun auch noch den Führerschein machen.
Wie schön.
Das war der letzte Gefallen, den ich ihnen tat, und insofern … verdient er besondere Erwähnung.
Natürlich wurde ich nicht dazu gezwungen. Man appellierte, wie so oft, an meine Vernunft und an mein Ehrgefühl. „Schau mal“, wurde mir durch die Blume bedeutet, „ein guter Katholik ist nicht aus Dir geworden, bei der Saar­brücker Zeitung willste nicht bleiben, heiraten wird Dich auch niemand – Gott, was ham wer bloß verbrochen! Jetzt werde wenigstens ein guter Autofahrer! Kind, das bist Du uns schuldick!“
Dann lockte man mich ferner mit dem Versprechen, ein Auto, das hieße frei sein! Unabhängig sein! Das hieße, erwachsen werden!
Folgsam wie ich war, habe ich sofort damit begonnen, mir das in den schön­sten Farben auszumalen: mein neues Leben als „King of the Road“, als zügi­ger, versierter, souveräner, flüssiger, … sexuell verklemmter, eingeschüchterter, vom Leben überforderter Autofahrer!
So begab ich mich in die Hände einer Fahrschule, die nicht nur die andert­halbtausend Seelen meines Heimatkaffs betreute, sondern auch einen Nach­barflecken, und für mein persönliches Wohl war Volker zuständig, ein stimm­gewaltiger, mutterwitziger Toupetträger.
Ich durfte ihn auf den nun folgenden teuer bezahlten Spritztouren begleiten: bei seinen Amtsbesuchen, Werkstatterminen und Einkaufsfahrten – und zwi­schendurch Autobahn fahren. Auf dem Land ist gut Autobahn fahren.
Natürlich kapierte ich nichts. Ich kapiere nicht, wie ein Auto funktioniert, also kann ich es auch nicht bedienen! Ich hab’s ja gewußt! Ich bin ein Versager! Ich hab’s ja gewußt!
„Ruuuhig!“ brüllte mir Volker entgegen. „Kein Problem!“ Danach pflegte er einen abfälligen Scherz über Bernd Duszynski zu machen, einen Rundfunkmo­deratoren, den er so abgrundtief haßte, daß er keine seiner Sendungen ver­säumte, und es konnte losgehen.

Unser Ziel hieß Dillingen, eine leuchtende Metropole im nördlichen Mittel­saarland, die nämlich – ein Wahnsinn! – eine eigene Kreuzung und eine Verkehrsampel besaß … ich sehe erstaunte Gesichter – Eine Verkehrsampel im Saarland der frühen 80er Jahre!!! Doch, das gab’s damals schon. Gut, die war gerade rechtzeitig zu meiner ersten Fahrstunde fertig geworden. Der saarländische Landtag hatte 14 Jahre gebraucht, um die Farben auszusuchen, dann Hatte Oskar Lafontaine ein Machtwort gesprochen: „Rot kommt nach oben!“
Nun profitierte ich sogleich von diesem neuen Medium.
Ich verbrachte in der Regel meine teuren Fahrstunden mit dem langen Weg dorthin und mit dem Heim­weg. Dazwischen durfte ich dann zur Belohnung einmal über diese Kreuzung. „Do muschte driwwer!“ erklärte mir Volker. „Das sin die Sache wo de leere muschd!“ Also überquerte ich sie. „Suuuper!“ freute sich Volker.
Der Seltenheit dieser Übung ist es u.a. zuzuschreiben, daß sich meine Fahr­künste im ersten Halbjahr meiner Tätigkeit als Fahrschüler nicht sonderlich entwickelt haben.

Besonders effektiv waren jene Stunden, in denen unser Fahrlehrer seine Talente als Organisator kleinerer Gruppenreisen entfaltete. Gleich mehrere Fahrschüler wurden in den Golf gepackt und schichtweise ans Ruder gelassen. So dauerte die Fahrzeit für alle Beteiligten dann bis zu viereinhalb Stunden. Es kam einer Linienbusfahrt gleich. Das gab dem Pädagogen Gelegenheit, auch mal im fernen Saarlouis einzukaufen, und für meine Nachbarin fiel dann schon mal eine Extrakreuzung ab.
Ich möchte Sie nicht mit Details langweilen. Lediglich eine Konstellation will ich Ihnen näher vorstellen: Volker, Frau Christa aus Wiesbach, eine stämmige Hausfrau und Mutter, die vernehmlich nach 8X4, Achselschweiß, sowie diver­sen Soßen und Gewürzen roch, ihr Sohn (5), sein Hund – und ich. In einem Golf. Und das im heißesten Sommer.
Ich hab’s ja gewußt! Wo ich Kinder und Hunde auf den Tod nicht ertragen kann! Ein Kind, ein Hund und ich auf einer Rückbank, und meine Nase direkt in einer saarländischen Achselhöhle! Ich hab’s ja gewußt! Ich hab’s ja gewußt! Sie hassen mich alle! Sie wollen mich in den Wahnsinn treiben!
„Prima!“ begrüßte Volker die vollständig Versammelten. Ein kleiner Vortrag über „diesen blöden Duszynski und seine dämliche Sendung“, und auch diese Fahrstunde nahm ihren Lauf. Christa durfte als erste. Sie kam genau fünfzehn Meter weit, da begann auch schon die Vorstellung.

(Musikeinsatz The Day The Earth Stood Still – Radar)

Volker: Christa! Du musch Gaaas genn!
Christa: Oh, Volker! Isch wullt doch hout emol näischt falsch mache!
Volker: Gaaas genn!
’s Kind: Mama, Du musch Gaaas genn!
Hund: (bellt, leckt)
Volker:
Jawoll! Blinker setze!
Christa: Jooo… (Klick Klack Klick Klack)
Volker:
Die anner Rischtung!
(Bremsquietschen)
Christa: Oh, Volker. Aweile awwer.
’s Kind: Mama! Gaas genn! Herschte nit!
Hund: (bellt, winselt, leckt)
Volker:
Gaaaaanz ruhisch! Faaahre!
’s Kind: Mama, heerschte dann nit! Dou musch doch Gaaas genn, dumm Ding!
Hund: (jault)
Volker: Nit schnippele!
Christa: Oh, Volker, dabei wullt isch doch hout…
’s Kind: Mama, Du bisch jo so doof!
Volker: Paß uff! Die Bouschdell!

(alle schreien, es knallt, Musik Ende)

 Nach einer verantwortungsvollen Frist von mehreren Jahrzehnteln wurde ich schließlich zur Prüfung freigegeben. Trotz boshafter Fangfragen wie: „Sie wenden auf der Autobahn. Was ist zu beachten?“ bestand ich völlig über­raschend den schriftlichen Teil – wie töricht von mir. Und als mir Volker vor Antritt des praktischen Teils in seiner liebenswürdigen Art versicherte: „Wer bei demm do Prüfer dorschfällt, der gebt geschwaat!“ bestand ich auch den.
Zur Belohnung erhielt ich einen moribunden R5 – für mein Geld.

Jetzt fing der Ärger erst richtig an. Ich mußte auf der A1 zwischen meinem Kaff und Saarbrücken der Erkenntnis Vorfahrt gewähren, daß … daß ich … nun ja, daß ich … Ich hab’s ja gewußt! Ich hab’s ja gewußt!
Mutti, ich kann es nicht! Es macht mich krank! Ich bin dem Ganzen nicht gewachsen! Das macht mich völlig fertig! Ich verfahre mich beim Ausparken! Ich krieg hektische Flecken! Krisen! Depressionen! Ich ertrage das nicht!
„Aber so fühlst Du Dich seit fast zwanzig Jahren ununterbrochen! Wo ist das Problem?“ wollte Mutter wissen. Da mußte ich passen.
„Dat Dingen hat soviel Jeld jekoss, jetzt fährst auch damit!“

Papi meinte den Führerschein. Er hatte mir mal zum Geburtstag eine Fahr­stunde geschenkt. Ich gab nach, und Mutti freute sich so sehr darüber, daß sie mich am liebsten sofort bei der „Jungen Union“ angemeldet hätte. Ich konnte gerade noch widerstehen, aber ich fuhr weiter.
Und ich litt.

Ich fürchtete mich vor diesen gemeingefährlichen Verrückten, die nichts im Sinn hatten, als sich gegenseitig zu überholen, zu necken und zu rammen. Ich fand heraus, daß die Rasse Mensch noch gar nicht reif für das Automobil sei, aber wie alles, was ich herausfand, interessierte auch das keine Sau.
Also fuhr ich weiter und litt.

Bis auf einen ruckartigen Schürfvorgang an der Leitplanke kurz hinterm Rastpfuhl geschah wenig ungewöhnliches. Dieses Ereignis gab Papi Gelegen­heit zur Aufführung des Sketches „Der Verkehrspolizist“ und machte ihm sehr viel Freude. So suchte ich Trost auf der Heimfahrt von meinen Nachtschich­ten. Da fuhr ich gelegentlich auch schonmal ohne Licht, aber dafür sang ich ganz laut: „In the roaring trafics boom / In the silence of my lonely room / I think of you – night and day!“
Und ich fuhr weiter.
Und ich litt.

Es war vor einer städtischen Ampel, als sich mein Schicksal erfüllen sollte. Es goß in Strömen an diesem Tag, und vor der Ampel bildeten sich wahre Thrombosen mißgelaunter Autofahrer, die alle in ihren rollenden Gefängnis­sen saßen und litten. Ich war bei meinem Vortrag des Musicals „South Pacific“ gerade an der Stelle, an der der nette Colonel stirbt, da erbob mir der Wagen unter dem Gesäß, und ein gutturales Scheppern ward vernehmlich.
Aha. Das war also ein Auffahrunfall.

Ich will es kurz machen. Der andere war schuld. Der wußte das auch.
Er gab’s sogar zu.
Ein Autofahrer, der seine Schuld zugibt!
Ein saarländischer Autofah­rer, der seine Schuld zugibt!
Ein saarlouiser Autofah­rer, der seine Schuld zugibt!
Nun gab es zwei Möglichkeiten: entweder der Mann war krank, oder der Himmel hatte ihn mir geschickt, um mich aus meinem faraday’schen Käfig zu befreien.
Ehrlich, gesagt, es war mir egal.
Ich stieg aus, spürte den Boden unter meinen Füßen, den Wind in meinem Haar. Welch Wonne war’s, des Morgens Frische zu erleben! Wasserminze und Wegerich schienen mit einem Mal aus den Bordsteinen zu wuchern, ­Schwertli­lien und Sumpfdotterblumen. Der Regen umschmeichelte mein geschundenes Antlitz. Das Hupen der armen Einge­schlossenen tönte mir wie Vogelgezwit­scher. Die Sonne brach durch die Wolken, ich breitete meine Flügel aus und erhob mich gen Himmel, und in diesem Moment glaubte ich, ganz deutlich den letzten Satz der BEN-HUR-Suite zu hören.

Muttis Schrift hatte sich erfüllt. Der Führerschein war da, das Auto im Eimer, und jetzt war ich wahrlich unabhängig – und frei!

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