Die undankbare Traumrolle

betr.: 49. Geburtstag des Bühnenmusicals „Cabaret“

Der Conférencier in „Cabaret“ ist eine famose Rolle, eine Schlüsselfigur, die heimliche Hauptrolle des Abends. Der Schauspieler, der das gestalten darf, ist zu beneiden: diesen widerwärtigen, schadenfrohen Lustmolch, der uns immer nur in seiner fahlen Maskierung gegenübertritt und als Mensch einfach nicht zu fassen ist.
Doch die Sache hat einen Haken. Diese Figur ist Kabinettstückchen. Wir haben eine definitive Umsetzung vor Augen, gegen die nun jeder antreten muß, der ihr nachfolgt. Es ist Joel Grey, der diesen androgynen, fistelstimmigen Finsterling zuerst in einem Bühnenerfolg und dann im darauffolgenden Kultfilm verkörperte.
Ein „Wilkommen“ ohne ihn ist einfach eine merkwürdige Sache.

Das Problem, das diese Rolle bereitet, ist typisch für eine Reihe von Ikonen der Popkultur: Marilyn Monroes „I Wanna Be Loved By You“ oder „Diamonds Are A Girl’s Best Friend“, Barbra Streisands „Papa, Can You Hear Me“, sämtliche Hits von Zarah Leander. Auch eine Handvoll Charakterrollen bringen es mit sich. Als Sebastian Koch in einem Remake des TV-Klassikers „Der Seewolf“ auftrat, mußte er selbstverständlich auch irgendwann eine Kartoffel zerquetschen.

Wir haben es hier mit der kollektiven Zuschauererwartung zu tun, einem Reflex, dem sich niemand entziehen kann. Die Frage ist unausweichlich: „Warum sollte ich mir das jetzt von dieser Person nochmals (dar)bieten lassen?“
Wer „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ vorträgt, muß diesen Welterfolg genau studiert haben, um ihn entweder verblüffend präzise zu parodieren oder völlig neu zu erfinden. Im ersteren Falle – wenn die Parodie gelingt – verbraucht sich der Reiz sehr rasch, und das Auditorium wird zumeist (höflich) das Ende abwarten. In zweiten Falle muß man eine gute Idee haben, damit es nicht heißt: „Das Original war aber besser!“ Die Idee sollte so gut sein, dass ein Vergleich sich gar nicht erst aufdrängt. Am schlimmsten ist es, ein solches Lied einfach nur vorzutragen und sich auf die künstlerische Freiheit herauszureden. Wer es „irgendwie“ macht, versagt der Vorlage – die dann zufällig gestreift wird – und ihren Kennern den Respekt, und das erzeugt ein besonders unbehagliches Gefühl.
Hin und wieder entwindet sich ein solcher Signature Song auch schonmal seinem Interpreten. „My Way“ ist längst zu einem gediegenen Altherren-Chanson geraten, dessen sich jeder bemächtigen darf, der nicht mehr der Jüngste ist. Es ist aber immer Frank Sinatras Lied geblieben. Der Geist des offiziellen Eigentümers ist nicht zu vertreiben. (Dabei stammt der Song ursprünglich von Paul Anka.)

Bei „Cabaret“ hört dieses Dilemma übrigens auch nach knapp 50 Jahren und einer Fülle unentwegter Neuinszenierungen nicht auf – das Stück wird zumeist aus purer Phantasielosigkeit auf den Spielplan gehoben, nicht seiner Qualität wegen.*
Zuletzt sah ich es vor einigen Jahren in Kiel und war mit dem Conférencier besonders unglücklich. Ein Ensemblemitglied verriet mir das Geheimnis dieser Fehlleistung: „Er sagte: ‚Ich kenne den Film gar nicht, ich erfinde das selbst!’“
Dieses Desinteresse am eigenen Metier ist in der Leichten Muse häufig anzutreffen, und die faule Ausrede ist immer dieselbe.

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* siehe dazu auch den Blog vom 8. November 2015

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2 Antworten zu Die undankbare Traumrolle

  1. Oliver sagt:

    Hi Monty,
    ein interessanter Gedankengang. Allerdings rührst Du meines Erachtens zwei Dinge in einen Topf: Produzent und Rezipient – unter Vernachlässigung des Zeitfaktors. Anders ausgedrückt: Wenn der Kieler Darsteller des Conférenciers den 43 Jahre alten Film nicht kennt, kann er nur für denjenigen Zuschauer eine unbefriedigende Leistung zeigen, der den Film kennt. Der Zuschauer aber, der den alten Film ebenfalls nicht kennt, wird den Schauspieler (zu Recht) einfach an dem messen, was dieser darbietet. Wenn nur noch die einmal geschaffenen Ikonen als Maßstab gelten, wird zukünftige spannende, interessante Darstellung immer weniger möglich sein. Die berühmt-berüchtigte Diskussion um Werktreue fällt mir dazu ein – und ist die nicht (ebenfalls zu Recht) langsam aus der Mode?
    Viele Grüße
    Oliver

    • montyarnold sagt:

      Lieber Oliver,
      deine abschließende Frage ist berechtigt, aber ich möchte sie dennoch entschieden mit nein beantworten. Zunächst einmal – da bin ich ganz konservativ – gehört die Kenntnis eines derartigen Klassikers zum Handwerkszeug des Musicaldarstellers. Dass der Kollege den Film / den Song / den Charakter nicht ohnehin schon aufgeschnappt hat, ist bei einem so verbreiteten und zugänglichen Werk überhaupt nur möglich, wenn er das Genre geradezu meidet. Und dieses Desinteresse am eigenen Metier ist spürbar und in jedem Falle ärgerlich. (Ich habe die Erklärung für mein Unwohlsein ja auch erst nach der Show erhalten.)
      Und damit sind wir beim ethischen Teil der Überlegung: wenn ein Konzept nicht rund ist, bemerkt das auch der Laie (selbst wenn er das Original nicht kennt). Vermutlich kann er seine Reaktion nicht erklären, aber das muß er als Zuschauer ja auch nicht. Andererseits ist anzunehmen, dass nur sehr wenige Besucher des Musicals diesen Hit nicht gesehen haben, denn die lieben das Genre zumeist. Gern und freiwillig.
      Dein Wunsch nach einer weiteren „interessanten Darstellung“ wird von mir geteilt. Ich betone ja, wie wohltuend – selbst bei Kabinettstückchen – die Neuerfindung ist. Es graust mir nur vor Beliebigkeit. Besonders bei den wenigen echten Ikonen im Repertoire.

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