Broadway’s Like That – Die Geschichte des Musicals (2)

Und ganz viel Europa – Die Anfänge des Broadway (2) (Fortsetzung vom 14. März)

Nora Bayes singt „Young America“
https://www.youtube.com/watch?v=6gUjSotGBEo

In dieser Aufnahme von 1910 besang Nora Bayes „Young America“. Die Kinder, sagt der Text, deren Väter noch aus aller Herren Länder stammen mögen, kommen in Yankee-Land in den „Melting Pot“, den sprichwörtlichen amerikanischen Schmelztiegel, auf welche Weise sich in jeder öffentlichen Schule ein zukünftiger Präsident heranziehen lässt, oder auch – kann man hinzufügen – ein großer Songwriter.
Jerome Kern etwa, Irving Berlin, die Gershwin-Brüder, waren solche Kinder von deutsch-jüdischen bzw. russisch-jüdischen Einwanderern. Ein Melting-Pot-Genre – so könnte man das Musical bezeichnen, nicht nur wegen der Herkunft seiner Autoren.
Irgendwo in der Mitte zwischen Varieté und Oper hat es seinen Platz, meinte Leonard Bernstein einmal. Und in der Tat hat es Züge von beiden. Dieses junge Genre, dessen Geschichte sich vornehmlich im 20. Jahrhundert abspielt, hat eine Vielzahl von Quellen und Vorgängern im musikalischen Unterhaltungstheater, ist daher auch in sich selbst so heterogen, dass es sich der exakten Definition entzieht. Zwar kann sich jeder etwas unter dem Begriff vorstellen, aber ist Kerns „Show Boat“ ein Musical oder eher eine Operette, Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ ein Musical oder womöglich eine Oper, Bob Fosses „Dancin’“ ein Musical, eine Revue, ein Ballett?
Die Amerikaner lösen diese Probleme pragmatisch, indem sie den Begriff „Musical“ auch in einem ganz allgemeinen Sinn verwenden: für Stücke musikalischen Unterhaltungstheaters, die also nicht reine Sprechstücke sind. So vage, doch brauchbar definiert ist Musical ein Stück Unterhaltungstheater mit den Komponenten Schauspiel – also Buch und Dialog – und Musik – also vor allem Gesang, aber auch Bühnenmusik, musikalisches Untermalen von Dialogen und Tanzsequenzen.
Der jeweilige Anteil von Musik, Schauspiel und Tanz kann dabei ganz unterschiedlich ausfallen. Musikalisch ist das Musical der Popularmusik seiner jeweiligen Zeit verbunden, ohne freilich immer mit ihr identisch zu sein.

Bringt die Heterogenität der Kunstform Musical zwar einerseits eine relative Offenheit für verschiedenartige musiktheatralische Ausformungen zwischen Revue und Oper mit sich, so wird andererseits die mögliche Vielfalt nicht als l’art Pour l’art gepflegt. Sie ist vielmehr, da das Broadway-Theater den geschützten Freiraum des Subventionstheaters nicht kennt, kommerziellen Zwängen unterworfen, die gerade heute, da die Produktionskosten ins Immense gestiegen sind, Experimente kaum noch zulassen. Dafür sind eher schon Workshops, Off-Broadway oder regionale Bühnen zuständig. So ist das Musical auch ein pragmatisches und eher konservatives Genre.
Ein sakrosanktes Kunstwerk mit Ewigkeitsanspruch kann es schon aufgrund seiner Produktionsbedingungen wohl nicht sein, was nicht ausschließt, dass sich auch innerhalb dieses Genres bereits ein Kanon von Klassikern herausgebildet hat. Und in seinen interessantesten Werken, befindet sich das Musical durchaus am Schnittpunkt von Unterhaltung und Kunst.

Der Konflikt zwischen Breitenwirkung, Kunstanspruch und Unterhaltungsbedürfnis ist ein Grundkonflikt nicht nur des Musicals sondern des Theaters überhaupt. Schon Goethe hat ihn im Vorspiel auf dem Theater zum „Faust“ thematisiert.
Indem das Musical dem Unterhaltungsanspruch des Publikums nachkommt – im Idealfall sollte es unterhalten ohne sich anzubiedern oder herabzulassen – ist es auch ein emotionales Genre, das sein Publikum durchaus zu umgarnen trachtet.
Der Regisseur Jerry Zaks, der 1992 das erfolgreiche Broadway-Revival des Klassikers „Guys And Dolls“ inszeniert hat, erklärt sich diesen Erfolg so:

Für mich war das wie Elektrizität! Ich meine, es war etwas Impulsives und Emotionales, nichts Verstandesmäßiges. Diese Elektrizität kommt nicht vom Verstand, aber wenn sie das Publikum oder die Kritiker trifft, rennen sie raus und erzählen es jedem. Lachen ist nicht das Ergebnis einer Reaktion des Intellekts. Es hat mit dem natürlichen menschlichen Bedürfnis nach Freude im Leben zu tun. Wie sich die Sonnenblume der Sonne zudreht, so wollen wir lachen. Wir wollen dieses Gefühl einfach erfahren.

Im Musical trat ein neuer darstellerischer Archetyp auf den Plan, den es so in Oper und Operette nicht und im Sprechtheater nicht mit diesem musikalischen Aspekt gegeben hatte: der Entertainer. Donald O’Connor definierte diese Tätigkeit 1951 in dem Filmmusical „Singin‘ In The Rain“ in seinem Solo „Make ‚Em Laugh“.
Forts. folgt

 

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