Die Seriale 2016 – 2. IndieSerienFestival Gießen

betr.: 1. Festivaltag ds-2016-programmheft-web

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Die nouvelle Nouvelle Vague

Die Geschichte ist bekannt: In den 50er Jahren machte sich eine Gruppe französischer Filmjournalisten selbst ans Werk. Sie erblickten in dem noch als Mainstream-Heini unterschätzten Alfred Hitchcock ein gemeinsames Idol. Und doch hatte ihre Kunst, die bald unter dem Namen Nouvelle Vague um die Welt gehen sollte, mit Hitchcock und seiner Art, Filme zu machen nicht das Geringste zu tun. Ganz im Gegenteil: diese Filme waren spontan, mitunter improvisiert, entstanden auf der Straße und zeigten „normale Menschen“.
Bis heute hat sich niemand gefunden, der dem Master wirklich nacheifer(n konn)te. Gut – es gab heitere (Stanley Donen), alberne (Mel Brooks) und miesmuffelige (Brian de Palma) Parodisten / Nachahmer und sogar den Versuch einer präzisen Kopie („Psycho“), aber all das ließ Hitchcock nur umso unwiederholbarer dastehen.
Was die jungen SerienmacherInnen antreibt, die sich nun zum zweiten Mal in Gießen auf der Seriale präsentieren, ist noch nicht gründlich erforscht, aber immerhin ein Statement haben wir: das von Dennis Albrecht, Mitbegründer der Seriale und fleißiger Indie-Serienproduzent. Ihn treibt
die qualitative Wüste um, die im deutschen Serienfernsehen glüht, während aus den USA seit einigen Jahren Werke herüberkommen, deren Qualität alles Dagewesene in den Schatten stellt. Natürlich hat Dennis Albrechts „Filmstadt“ – wie auch die in Gießen gezeigten Arbeiten – mit „Homeland“ oder „Breaking Bad“ nichts gemein, aber darum geht es ja gar nicht – wie wir seit Hitchcock und der Nouvelle Vague wissen.
Das Vorbild war nur der Auslöser für etwas Neues.

So kann ich mir nicht verkneifen, das Programm auch unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten: Was gibt’s Neues?

Die Sitcom „So… brothers“ ist die Abschlußarbeit von Marin Grimm. Zwei Folgen (die gemeinsam eine Art Pilotfilm ergeben), wurden produziert, um sich für Producertätigkeiten in der klassischen Medienlandschaft zu empfehlen, und folglich ist „So… Brothers“ weniger innovativ als einfach sehr sauber gemacht. Nicht einmal auf die inzwischen reichlich miefig wirkenden Konservenlacher wurde verzichtet. Die Besonderheit dieser Geschichte um zwei nichtqualifizierte Brüder, die unmittelbar nach ihrem verspäteten Kennenlernen ein Tonstudio übernehmen sollen, hat eine andere Besonderheit, die den Blick auf die großen Zusammenhänge freimacht: sie wurde auf Englisch produziert. Einerseits ist diese Strategie überaus verständlich und auf der Höhe einer Zeit, in der sich nur noch rechnen kann, was ein Millionenpublikum findet. Andererseits sind das künstlerisch unbehagliche Aussichten – gerade angesichts der Souveränität, mit der die Show schauspielerisch abgeliefert wird und im Programm eines Festivals, das die kreative Unabhängigkeit feiert.

Mit am besten an diesem ersten Abend gefiel mir ein geradezu konventionell erzähltes Format: der St. Pauli-Krimi „The Big Swutsch“ (dessen Darstellerensemble viele Kollegen aus dem Hamburger Krimitheater versammelt).

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Mit grotesken Überzeichnungen durchaus reich gesegnet, ist es doch kein Schmunzelkrimi geworden, sondern eine Milieustudie, deren Figuren bereits in der kurzen Zeit der ersten Episode in eine vielversprechende Entwicklung aufbrechen. Es betrübte mich über die Maßen zu erfahren, dass die Fortsetzung des Formates ungewiß ist und dass die weiteren Folgen – aus denen ich Ausschnitte sehen durfte – „weggeschmissen wurden“. Autor / Hauptdarsteller Harun Yildrim wurde von jenen Selbstzweifeln befallen, die jeder Künstler kennt.

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„Wollte ein einzelner Mensch …“

Auch ein komplett animierter Film wurde geboten: der 4. Teil von „2 Aliens“. Wer wenigstens ein Buch über Trickfilmerei gelesen hat, kennt den Halbsatz „Wollte ein einzelner Mensch…“. Thomas Zeug ist nun dieser einzelne Mensch. Praktisch im Alleingang (und das auch noch in seiner Freizeit) hat er einen parodistischen Science-Fiction-Rundumschlag mit Hollywood-Filmmusik geschaffen. Er spricht auch die – provozierend lieblos gestalteten – Titelhelden. (Umso malerischer ist alles, was diese Helden umgibt!)
Wären die nie versiegenden Gags nicht so zündend, die absurde Handlung nicht so klug gestrickt, man hätte diese halbe Stunde allein dazu gebraucht, um das Erstaunen darüber zu verkraften, dass der ganze Spaß aus einem einzigen Kopf und seinem privaten Computer kommt. Der Grafiker Thomas Zeug arbeitet für einen Münchner Privatsender, der hier nicht genannt sein soll und auf dem seit Jahren nichts annähernd Innovatives und Amüsantes zu sehen war.
Dass der Macher sich mit dieser Arbeit nicht längst ein großes Forum gesucht und gefunden hat, liegt an dem befürchteten Verlust künstlerischer Freiheit – schließlich kennt Thomas Zeug den real existierenden Medienbetrieb genau.
Dabei ist „2 Aliens“ überaus zugänglich, bereitet dem Betrachter keinerlei Zumutungen, läßt ihn nie in Abgründe blicken, die einem Redakteur Sorgen machen müßten. – Ich bin angesichts dessen fast erstaunt, wie viel Vergnügen er mir bereitet hat.
„2 Aliens“ balanciert präzise auf dem schmalen Grad zwischen harmloser Unterhaltung und der Ausreizung maximaler Unverschämtheit – was ich fast noch verblüffender fand als die makellosen Charakterköpfe und Effekte. Vereinfacht gesagt: er zieht die Konsequenz daraus, dass inzwischen in der Unterhaltungsindustrie jeder offiziell alles doof findet und macht selbst darüber lustig.

Gerade in ihren schönsten Momenten wirft die Seriale einen digital immigrant wie mich auf die Traurigkeit unserer Mediensituation zurück. Sie führt mir besonders klar und deutlich vor Augen, dass mittlerweile – dank der technischen Entwicklung – die klassischen Medien mit ihren Produktionsstätten nicht mehr gebraucht werden.
Zumindest nicht im erzählerischen Bereich – die journalistische Leistung der öffentlich-rechtlichen sind noch immer hoch zu preisen und unverzichtbar!
Und was ist mit diesen tollen US-Serien, mit denen ja gewissermaßen auch die „Seriale“ angefangen hat?
Gegenfrage: Wann habe ich die letzte davon im Deutschen Fernsehen gesehen?
Es ist jedenfalls lange her.

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