Die wiedergefundene Textstelle: „Der Bienenjunge“

betr.: 223. Todestag von Gilbert White

Der folgende kurze Text, in dem Bienen eine große Rolle spielen – jenes nach Rind und Schwein wichtigste Nutztier des Menschen – stammt aus „The Natural History and Antiquities of Selborne“ (1789) des Kaplans und Naturforschers Gilbert White. Dieses Buch setzt sich aus Briefen zusammen, die teilweise gleichwohl nie abgeschickt wurden, und begründete das Genre der Naturschriftstellerei. Es galt einigen großen Schriftstellern als überdurchschnittlich anregende und wunderbare Lektüre.

Brief XXVII
An den ehrenwerten Daines Barrington
Selborne, 12. Dezember 1775.

Dear Sir,

wir hatten in diesem Dorf vor mehr als zwanzig Jahren einen schwachsinnigen Jungen, an den ich mich noch gut erinnere. Von Kind auf fühlte er sich stark zu Bienen hingezogen. Er ernährte sich von ihnen, er beschäftigte sich mit ihnen – sie waren der einzige Gegenstand seines Interesses. Und so wie viele Menschen dieser Art selten mehr als einen Gesichtspunkt kennen, so widmete dieser Knabe alle seine geringen Fähigkeiten diesem einen Gegenstand.
Im Winter verschlief er seine Zeit in seines Vaters Haus am Kamin in einem Zustand der Betäubung, und nur selten kam er hinter dem Kamin hervor. Im Sommer aber ging er auf den Feldern und an den sonnenbeschienenen Ufern des Flusses umso lebhafter seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Honigbienen, Hummeln, Wespen waren seine Beute, wo immer er sie fand. Er hatte keinerlei Angst vor ihren Stichen, sondern ergriff sie einfach nudis manibus, beraubte sie ihrer Waffen und sog ihre Körper aus, der Honigsäckchen wegen. Manchmal verwahrte er eine Anzahl dieser Gefangenen zwischen Hemd und Haut, manchmal sperrte er sie in Flaschen. Er war ein richtiger Merops apiaster oder Bienenvogel und eine Plag für alle, die Bienen hielten; denn er schlich sich in ihre Bienengärten, hockte sich vor die Bienenhäuschen, klopfte mit den Fingern an die Bienenkörbe und griff sich die Bienen, wie sie herauskamen.
Es war allgemein bekannt, dass er um des Honigs willen, den er so leidenschaftlich begehrte, ganze Bienenkörbe umstieß. Wo Met bereitet wurde, strich er um die Wannen und Kessel herum und bettelte um einen Schluck Bienenwein, wie er zu sagen pflegte. Und wenn er herumlief, pflegte er mit den Lippen ein summendes Geräusch zu machen, das ganz dem Surren der Bienen glich.
Dieser Bursche war mager und bleich, von ausgemergelter Erscheinung; und, mit Ausnahme seines bevorzugten Zeitvertreibs, in dem er sehr geschickt war, ohne jeden Verstand. Hätte er größere Fähigkeiten besessen und sie demselben Gegenstand gewidmet, wäre unser Erstaunen über seine Kunststücke in der modernen Haltung von Bienen womöglich geringer gewesen; doch so können wir über ihn sagen,

Du,
hätte dir ein günstigerer Stern geschienen,
du wärst ein Wilder geworden.*

Als Jüngling wurde er von hier in ein entferntes Dorf gebracht, wo er, soweit ich weiß, verstarb, bevor er das Mannesalter erreichte.

I am, etc.

„Die Naturgeschichte von Selborne“ war ein Bestseller, die Wikipedia preist sie als „Klassiker“ – und dennoch ist sie nie in deutscher Sprache erschienen. Im Original läßt sich das Werk herunterladen: https://onlinebooks.library.upenn.edu/webbin/gutbook/lookup?num=1408.
______________________
* Wilder = Angehöriger eines Naturvolks

Dieser Beitrag wurde unter Buchauszug, Literatur, Übersetzung und Adaption abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Die wiedergefundene Textstelle: „Der Bienenjunge“

  1. Pingback: Die wiedergefundene Textstelle: „Das Ehepaar Krestoffer Herkrud“ - Monty Arnold blogt.Monty Arnold blogt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert