Broadway’s Like That (20): Des Broadways klügster Song

5. Mr. American Music – Irving Berlin (3) (Fortsetzung vom 2. August)

Eher zufällig war 1919 Berlins Song „A Pretty Girl Is Like A Melody“ zur Erkennungsmelodie der “Ziegfeld Follies” geworden, die der geniale Impresario Florence Ziegfeld 1907 begründet hatte. Die große Zeit der Revue begann nach dem ersten Weltkrieg – nicht nur für Ziegfeld, sondern auch für Nachahmer und Konkurrenten.

Ein wesentlicher Bestandteil der „Ziegfeld Follies“, die opulente Ausstattung, gewann eine beinahe künstlerische Qualität, nachdem Ziegfeld 1915 den vom Jugendstil beeinflussten Wiener Architekten, Designer und Bühnenbildner Josef Urban engagiert hatte. Der Hauptzweck der „Ziegfeld Follies“ aber bestand im Glorifying the American Girl. Die schönsten prachtvoll aufgeputzten Mädchen schritten Treppen hinunter und wurden auch sonst groß herausgebracht. Für die „Ziegfeld Follies“ von 1919 schrieb Irving Berlin den Song, der fortan zur Hymne der Follies wie auch von Schönheitskonkurrenzen und Modenschauen werden sollte: „A Pretty Girl Is Like A Melody“. (Der Song wurde im frühen Tonfilm mit angemessenem Aufwand auch in einem MGM-Musical verewigt.)

Zwei Jahre später hatte Berlin sein eigenes Broadway-Theater, das „Music Box“, wo seine eigene Revue mit seiner eigenen Musik lief. Vier Jahrgänge dieser „Music Box Revues“ sollte es geben. “Say It With Music” hatte Berlin 1921 sozusagen als offizielle Erkennungsmelodie der „Music Box Revues“ geschrieben.

Nachdem Berlin 1925 eine Broadway-Show der Marx Brothers mit Musik ausgestattet hatte, „The Cocanuts“, das auch verfilmt worden ist, wandte er sich 1927 erneut den Ziegfeld Follies zu. Dieser Follies-Jahrgang nannte erstmals für sämtliche Songs nur einen einzigen Komponisten: Irving Berlin. Einer dieser Songs, “Shaking The Blues Away”, kehrte gut 20 Jahre später als furioses Solo für Ann Miller im MGM-Musical „Easter Parade“ zurück.

Irving Berlin, der autodidaktische Songwriter, und Jerome Kern, der gebildete Theaterkomponist, sind so unterschiedlich wie vor ihnen George M. Cohan und Victor Herbert. Was sie aber verbindet, dass beide einige ihrer schönsten Songs für Fred Astaire und Ginger Rogers geschrieben haben. Da sich dies auch von George Gershwin sagen lässt, ist Fred Astaire derjenige Interpret, für den die meisten Songs des „Great American Songbook“ geschrieben wurden.
Für drei der Musicalfilme von Ginger & Fred komponierte Berlin die Songs. “Let’s Face The Music And Dance” ist 1936 das Finale von “Follow The Fleet” – ein gehaltvoller, düsterer Song auf der Höhe der Zeit (der damaligen wie auch der heutigen), der durch seine sphärische Interpretation durch das legendäre Tanzpaar, das sich durch eine Art Deco-Kulisse bewegt, dennoch zu einem Vergnügen wird.
“Let’s Face The Music And Dance” ist ein herausragendes Beispiel für das amerikanische Songschreiberhandwerk. Kein Song hat eine klügere Botschaft – deren deutsche Entsprechung etwas hemdsärmeliger rät, „die Feste zu feiern wie sie fallen“ und die in lateinischer Form heute zum Werbeslogan für ein Getränk geschrumpft ist.
Jody Rosen leuchtet auch den historischen Hintergrund des Liedes aus* – nicht nur die von der großen Depression gebeutelten USA sind finstere Zeiten angebrochen, der Broadway hat mit einem Abgang seiner Songschreiberelite zu kämpfen – und attestiert  “Let’s Face The Music And Dance” eine prophetische Qualität:

So verstarb am 11. Juli 1937 plötzlich und unerwartet der 38jährige George Gershwin an einem Gehirntumor. Im selben Jahr wurden Cole Porters Beine bei einem entsetzlichen Reitunfall zerquetscht, und es dauerte Jahre, bis er sich von dieser Katastrophe beruflich wieder erholte. Lorenz Hart, der geistreichste, sarkastischste und charmanteste Kopf dieser Ära, verfiel dem Alkohol bis zur Selbstzerstörung. (…) Als das Jahrzehnt dem Ende zuging, war sogar die Bedeutung der Tin Pan Alley an sich in Frage gestellt. (…)

Musikalisch-stilistisch ist Berlin mit diesem Song ein Glanzstück gelungen, Unheil verkündend tanzen die Strophen durch eine Reihe von Mollakkordwechseln, deren düstere Elegenz an Kurt Weill zu seinen Bestzeiten erinnert. Noch bemerkenswerter ist der Text, mit dem jene realitätsausblendende Verzweiflung eingefangen wird, die hinter den pompösen Ausstattungsfilmen und Liedern der 30er Jahre steckt. (…) Die unvergessliche Zeile „There my be trouble ahead“ traf 1936 Nerv, dräuendes Unheil schien in der Luft zu liegen – es war das Jahr, in dem die Achse Rom-Berlin proklamiert wurde und Franco die Spanische Republik angriff. (…) schon um die Ecke könnte es soweit sein, dass Tränen vergossen werden und eine andere Melodie gesummt wird. „Soon“, singt Astaire, „we’ll be … humming a diff’rent tune“.

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* in „White Christmas“, der Biographie des Songs und seines Komponisten, Blessing Verlag 2003, ISBN 3-89667-172-3

Forts. folgt

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