Tatorte – „Game Of Thrones“ und die seriöse Polizeiarbeit

betr.: 60. Geburtstag von Evan Hunters Erzählung „The Last Spin“ / Game Of Thrones“, Staffel 6

Warum so viele Menschen so gerne Fantasy lesen, ist nicht einfach zu erklären. Warum diese Art von Literatur so gerne geschrieben (und verfilmt) wird, schon. Es ist bequemer, Abenteuer in erfundenen Welten spielen zu lassen, wie schon Ed McBain (alias Evan Hunter) wusste, der Urvater des Polizeiromans.
Seine Geschichten um das „87. Polizeirevier“ spielen in einer fiktiven Big City, die leicht als verkleidetes New York erkennbar ist (ähnlich wie Batmans Gotham, aber weniger expressionistisch verfratzt). Die Halbinsel heißt hier nicht Manhattan sondern Isola, Riverhead steht für die Bronx, Diamondback für Harlem, Majesta für Queens, Calms Point für Brooklyn. Es gibt sogar einen Hudson und einen East River – sie heißen allerdings Harb und Dix.
Ursprünglich hatte McBain häufig mit den Cops telefonieren müssen, um sich zu erkundigen, wo sich dies und jenes befand. Die ersten drei Romane hatten nämlich brav in New York gespielt, und die lästige Nachfragerei war notwendig gewesen.
Die Verlegung der Reihe, die sich bald als Erfolg herausstellte und fortgesetzt wurde, ins mythische Isola sparte nun eine Menge Zeit.
Selbstverständlich hörten die Recherchen keineswegs gänzlich auf. McBains Erfolg lag ja in der bis dato ungewohnt realistischen Darstellung der Polizeiarbeit begründet, in der Auslotung der menschlichen Natur, die auf beiden Seiten des Gesetzes gleichermaßen unerfreulich sein konnte.

Die Fantasy kennt solche Vorbehalte nicht und geht noch einen Schritt weiter: nicht nur die Geografie der Schauplätze wird erfunden, sondern auch die Struktur der Gesellschaft und die Geschichte der Zivilisation, in der die Figuren Leben. Auch um Formalitäten wie Medizin, Physik und Psychologie muß sich der Autor nicht scheren, wenn er nicht möchte. Es ist so wunderbar leicht, verfeindete Troll- und Feenreiche gegeneinander kämpfen zu lassen.
Auch als fauler Autor kann man so enormen Profit einfahren. Niemand hat das so eindrucksvoll unter Beweis gestellt wie George Lucas.
Dass das Publikum inzwischen wieder reif ist für das Arbeitsethos eines McBain, beweist die Beliebtheit der Buch- und TV-Reihe „Game Of Thrones“ von George R. R. Martin. Auch er belastet sich nicht mit der wirklichen Welt, unterwirft seine Figuren jedoch einer bezwingenden Schlüssigkeit. Abgesehen davon, dass jede ruchlose Tat, alle Vergeltungsschläge, Feldzüge, Massaker, selbst Impulsive Gemeinheiten einer plausiblen Dramaturgie folgen, gibt es eine präzise kartographierte Landschaft, in der das alles spielt – sie ist im Vorspann der Serie zu sehen. Der Erfolg der Serie hat seine Ursache  unzweifelhaft in der Sorgfalt, mit der Martin die Geschichte und die Klassiker studiert hat – und darin, dass ihm außerdem nichts Menschliches fremd ist.

Wo liegt Entenhausen?

Der Dramatiker und literarische Entertainer Friedrich Dürrenmatt konnte es in den 50er Jahren noch lockerer angehen. Im Prolog seines später verfilmten Theaterstücks „Die Ehe des Herrn Mississippi“ heißt es: „Da sich unsere Geschichte überall ereignen könnte, lassen wir sie am liebsten gleich in Europa-City spielen“. Er illustriert das mit einer Autofahrt, die an den Wahrzeichen eines Dutzends verschiedener Metropolen vorbeiführt. Das wirkt reichlich überholt in einer Zeit, da sogar die Topographie von Entenhausen exakt rekonstruiert wurde.

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Die etwas angestrengte Vermeidung eines konkreten Standortes bei Dürrenmatt im Prolog von „Die Ehe des Herrn Mississippi“ (D / CH 1961).

Wie Patrick Bahners in seinem Quellenwerk „Entenhausen – Die ganze Wahrheit“ berichtet, machte sich der Diplom-Ingenieur für Landkartentechnik Jürgen Wollina zwischen 1995 und 2008 die Mühe, einen Stadtplan von „Duckburg“ zu erstellen, in dem er alle Karten und Kartenausschnitte zusammenführte, die bei Carl Barks* zu finden sind. (Diese ebenso bewundernswerte wie humorlose Verbissenheit ist Ehrensache, wenn man – wie Herr Wollina – Mitglied der Donaldisten** ist.) Auch ich als nicht-organisierter Hobby-Geograf stellte mir hin und wieder die Frage nach der Lage dieser Ortschaft – und da blieben Widersprüche nicht aus. Einerseits hatte ein Disney-Mitarbeiter durchsickern lassen, dass Entenhausen eine Parodie auf Burbank darstelle. Andererseits muss es sich um eine Hafenstadt handeln. Schließlich bricht der reichste Mann dieser Stadt und der Welt häufig mit seinen Neffen per Schiff zu seinen Abenteuern auf – und das sowohl bei Carl Barks als auch in den „Lustigen Taschenbüchern“, deren Material fast immer aus italienischer Produktion stammt.

entenhausen
Eine Postkartenansicht der berühmtesten Hafenstadt der Märchenwelt. Ungeachtet ihrer mythologischen Qualität wurden ihr die letzten Geheimnisse inzwischen entrissen.

Out Of Entenhausen – Die Vertreibung aus dem Paradies

Apropos Entenhausen – mitunter wird das Leben im Märchen nachträglich zu eng und führt seine Geschöpfe zurück in die Wirklichkeit. Die seit bald 25 Jahren laufende tägliche Vorabend-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (die erste ihrer Art) spielte lange in einer namenlosen Ortschaft, die an der Begrenztheit der Schauplätze als piefige Kleinstadt zu erkennen war: so gab es beispielsweise über viele Jahre nur zwei gastronomische Betriebe, in denen sämtliche Figuren, unabhängig von Alter und sozialer Stellung, verkehren mussten: eine Szene-Kneipe und ein feines Speiselokal. Die hin und wieder unvermeidlich ins Bild geratenden Autokennzeichen begannen mit den Buchstaben „ET“, was der Stadt den internen Spitznamen „Entenhausen“ eintrug. Mit der Erkenntnis, dass das Projekt sie noch einige Zeit beschäftigen könnte, wurde es den Machern der Serie dann doch zu mühselig, diese Regelung durchzuhalten. Nicht genug damit, dass es für Autoren und Konsumenten fürchterlich anstrengend ist, so etwas Banales wie einen Schauplatz immerfort vermeiden zu müssen. Die Festlegung auf einen Unort schränkte auch die persönliche Entwicklung der Figuren gewaltig ein. Irgendwann wurde diese Politik stillschweigend aufgegeben, und plötzlich befanden sich die vertrauten Personen und Immobilien nicht mehr in „ET“ sondern in Berlin, wo die Serie ja auch gedreht wird.
Das Niveau hat sich dadurch nicht verändert, aber das Verfassen der Drehbücher dürfte erheblich leichter geworden sein.

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* Der Disney-Vetragsautor und -zeichner ist der Erfinder von Onkel Dagobert und erschuf im Laufe seiner Karriere auch dessen Wohnort.
** Die „Deutsche Organisation der nichtkommerziellen Anhänger des lauteren Donal­dis­mus“ (D.O.N.A.L.D.) ist eine Vereinigung von Gleichgesinnten (den Donaldisten), die sich für die Familie Duck und die Welt, in der diese lebt, interessieren. Deutsche Organisation der nichtkommerziellen Anhänger des lauteren Donal­dis­mus. Die D.O.N.A.L.D. wurde 1977 in Hamburg gegründet und hat weltweit ca. 1000 Mitglieder, überwiegend im deutschsprachigen Raum. (Quelle: https://www.donald.org/)

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