Die schönsten Comics, die ich kenne (9): „The Long Tomorrow“

„The Long Tomorrow“
Text: Dan O’Bannon, Zeichnungen: Moebius
erschienen 1981 bei Humanoides Associes, deutsch in „Fantasie Comics“, Band 2 sowie im Magazin „Schwermetall“ #2
Übersetzung: Daniele und Rüdiger Böhm

Popkultur erzeugt wieder Popkultur. Jean Giraud ist einerseits von der Nouvelle Vague und dem Italowestern beeinflusst und seinerseits die wichtigste Inspirationsquelle für den Science-Fiction-Film seit 1973*. An einigen von ihnen hat er aktiv als Designer mitgearbeitet – an „Tron“ etwa oder „Alien“ -, doch auch die anderen tragen seine Handschrift.
Unter dem Namen Moebius (zu Ehren des deutschen Physikers aus dem 19. Jahrhundert) schrieb und gestaltete Giraud für das Magazin „Métal hurlant“ eine Vielzahl phantastischer Abenteuer, die mit Vorliebe auf ungastlichen, sandigen Planeten spielen. Seit er als Teenager zum ersten Mal Mexiko bereist und verschiedene Drogen ausprobiert hatte, fühlte er sich in der Wüstenei gewissermaßen zuhause – und seine Helden auch.

moebius-kunststudentViermal Moebius. Zweimal als Kunststudent, Anfang der 50er Jahre. Und einmal als gespaltene Künstlerpersönlichkeiten Gir und Moebius.

„The Long Tomorrow“ ist so eine Geschichte aus der Zukunft und gleichzeitig eine 16seitige Persiflage auf den Film Noir. Da sie durchaus einen gewissen Sub-Klassikerstatus hat, gehört sie auf den ersten Blick nicht in diese Reihe**. Sie steht jedoch im Schatten epischerer Moebius-Geschichten wie „Die hermetische Garage“, „Der Incal“ oder jener um den Flugsaurierreiter „Arzak“ (auch „Harzak“ oder „Arzach“). Selbst Moebius’ umstrittener Ausflug zu Marvel (siehe weiter unten)*** wird im aktuellen Trend weitaus häufiger erwähnt.
Erinnern wir uns also an den einzigen dokumentierten Fall des Privatdetektivs Pete Club. Er ist ein Stadtmensch, doch sein viriler kahler Schädel ist wie gegerbt von den Sandstürmen einer unerbittlichen Moebius-Landschaft. (Der Großstadt-Bulle ist bekanntlich ein Mutant des Westernhelden.)

Der Ich-Erzähler wird aus seinem versifften Wohnbüro in ein edles Viertel gerufen. Die Kundin Dolly Van Der Katterbar residiert in einem schicken Appartement in der 12. Zone – eine atemberaubende junge Schönheit, die den Ermittler sogleich mit einem anzüglichen Kompliment einzuwickeln versucht. Club erhält den „kinderleichten“ Auftrag, einen Koffer aus einem Schließfach zu holen und herzubringen. Das Schließfach liegt in der berüchtigten 199. Zone, die aussieht wie die Frankfurter Bahnhofsgegend. Als Club den Koffer abliefern will, betritt er einen Tatort: Miss Van Der Katterbar ist in der Positur eines Fesselspielchens in ihrem Schlafzimmer grausig abgeschlachtet worden. Die ermittelnden Beamten sind allesamt Droiden, wie wir sie aus „Star Wars“ kennen (summende Mischungen aus Humanoiden und Haushaltsgeräten). Einer der Leutnants, ein gewisser Fy, berichtet Club etwas, das die Presse noch nicht wissen darf: ein arkturischer Spion ist in der Stadt, dem es offenbar gelungen ist, das Gehirn des Majors zu stehlen. Der hatte mit der Ermordeten ein Techtelmechtel. Das Hirn muss dringend wiederbeschafft werden, ehe der Feind daran herumfummeln kann.
Pete Club wird auf der Heimfahrt von aus einen fahrenden Wagen von einen Gunman (einem gewerkschaftlich organisierten, uniformierten Auftragskiller) von der Fahrbahn geballert. Club nimmt zu Fuß die Verfolgung dieses Burschen auf, dessen Fahrzeug ebenfalls zu Bruch gegangen ist. Die Hetzjagd führt die beiden an die mondartige Planetenoberfläche – denn alles, was wir an städtischer Enge gesehen haben, hat sich in einer künstlichen Schluchtensiedlung abgespielt. Club stellt den Gunman, und als ihm dieser nichts verraten kann, schickt er ihn ins Düsenfeuer einer startenden Rakete.
Zu Hause öffnet er endlich den Koffer – und findet darin das Gehirn. Wenig später besucht ihn die quicklebendige (etwas verjüngt wirkende) Miss Van Der Katterbar. Ihre Leiche sei nur ein Androiden-Doppel gewesen, und er müsse ihr nun „helfen“.
Während die beiden miteinander schlafen, erhält der Detektiv einen Anruf von Fy: das Mädchen ist der arkturische Spion.
Schlagartig nimmt das Wesen seine natürliche Gestalt an: eine zuckende Qualle, wie aus den Eingeweiden verschiedener Säugetiere zusammengenäht. Während der angewiderte Club versucht, sie sich vom Leib zu reißen, bringt sie ihn mit einem ihrer Tentakel noch zum Höhepunkt.
Obwohl sie das übliche Versprechen, ihn nun für immer zu lieben, noch mit einem hochinteressanten Zusatz versieht („Ich kann jede Form annehmen, die du dir wünschst … sogar deine eigene …“), wird sie von Club exekutiert.
Das gestohlene Hirn wird zurückgepflanzt, die Ordnung ist wieder hergestellt.

Die schmuddeligen, vertikalen Straßenschluchten von “The Long Tomorrow“ haben Ridley Scott zu „Blade Runner“ inspiriert. Der Comic ist von jener „transgressiven Sexualität“, die Moebius so am Herzen lag, ein typischer „Comic für Erwachsene“ – und Moebius ist einer der Vorreiter und Heroen dieser Strömung. Sein Abstecher in die amerikanische Comic-Kultur – er zeichnete 1988 für Marvel den „Silver Surfer“ – wurde ihm gerade deshalb intern verübelt. Philippe Druillet, mit dem er einst „Métal hurlant“ gegründet hatte, meinte nur verächtlich: „Superhelden haben fette Muskeln, aber leider – tut mir leid – keinen Schwanz! Und die Frauen keine Genitalien. Da ist nie etwas da unten. Deswegen hasse ich die Superhelden!“
Insofern ist Pete Club ein echter Europäer.

___________________
* Das Erscheinungsjahr von „La Déviation“, dem ersten Giraud-Comic im Moebius-Stil, der gleichwohl noch mit seiner alten Signatur „Gir“ versehen ist.
** … ähnlich dem „Vogelmenschen“ von Will Eisner, von dem unter https://blog.montyarnold.com/2015/01/03/der-raecher-von-central-city/ schon die Rede war.
*** Mehr dazu unter https://blog.montyarnold.com/2016/12/11/gerechtigkeit-fuer-norrin-radd-2/

Dieser Beitrag wurde unter Comic, Film, Marvel, Medienkunde, Medienphilosophie, Popkultur, Science Fiction abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Die schönsten Comics, die ich kenne (9): „The Long Tomorrow“

  1. Pingback: Sex and Sorcery - Monty Arnold blogt.Monty Arnold blogt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert