Broadway’s Like That (45): Der Frauenversteher Jule Styne (ii)

15. Das Ende der Tin Pan Alley (4)

„Gypsy“ von 1959 gilt als Jule Stynes reifstes Werk. Von der Idee zu einem Musical auf der Basis einer Autobiographie bis zum fertigen Bühnenwerk war es ein weiter Weg. Von Anfang an sollte Ethel Merman die Hauptrolle spielen. Mehrere Autoren bissen sich an dem Stoff die Zähne aus; Komponisten wie Cole Porter und Irving Berlin zeigten den Produzenten die kalte Schulter. Der designierte Regisseur und Choreograph Jerome Robbins brachte den jungen Songtexter der „West Side Story“, Stephen Sondheim als möglichen Komponisten ins Spiel. „Gypsy“ geht auf die Memoiren der seinerzeit berühmten Striptease-Tänzerin Rose Louise Hovick alias Gypsy Rose Lee zurück. Es führt in die weniger glanzvollen Bereiche des Show Business: Vaudeville und Burlesque der 20er und 30er Jahre. In diesem Umfeld spielt die Geschichte einer ehrgeizigen Mutter, die ihre Töchter unbedingt auf die Bühne bringen will. Eine davon ist die spätere Gypsy Rose Lee, die den Striptease schließlich salonfähig machen sollte und in Rodgers’ & Harts „Pal Joey“ mit dem Song „Zip“ geehrt wurde.

In „Let Me Entertain You“ erleben wir, wie Mutter ihre Kinder bei der Probe einer Vaudeville-Nummer korrigiert. Dieser Song  wird die Mädchen durch ihre Kindheit begleiten, und die erwachsene Gypsy unterlegt ihn schließlich ihrer Striptease-Nummer. Obwohl der Titel etwas anderes suggeriert, steht im Zentrum von „Gypsy“ die Figur der ambitionierten Mutter. Sie wurde von Ethel Merman in ihrer letzten Bühnenrolle dargestellt. Die Herausforderung dieser anspruchsvollen Aufgabe meisterte sie mit Bravour. „Ich will mir nicht selber auf die Schulter klopfen, aber wenn ich in einer Show auftrete, dreht sich die ganze Show um mich. Wenn ich nicht komme, kann man sie vergessen!“ hat Ethel Merman einmal in schöner Bescheidenheit über sich gesagt. Mit diesem Durchsetzungsvermögen hatte sie es geschafft, dass schließlich nicht Stephen Sondheim auch die Musik für „Gypsy“ schrieb, sondern dass diese Arbeit Jule Styne übertragen wurde, der als ehemaliger Stimmbildner seine Songs auf die Interpreten zuschneiden konnte – auf der Basis von Sondheims Texten.

Dieses Durchsetzungsvermögen kennzeichnet auch ihre Darstellung der dynamischen Mama Rose. In deren erstem Song „Some People“ erleben wir ihre Entschlossenheit, um jeden Preis den Traum vom Ruhm ihrer Kinder zu verwirklichen. Mit einem Spießerdasein gibt sie sich nicht zufrieden. Am Schluß des Stückes muß Mama Rose in der Konfrontation mit ihrer nun berühmten Tochter erkennen, es war ihr eigener unerfüllter Wunsch nach Ruhm, den sie sich durch ihre Kinder erfüllen wollte. Im Intensiven „Rose’s Turn“ fühlt sie sich endlich an der Reihe. Bis zum Nervenzusammenbruch fantasiert sie sich in die Rolle des großen Stars hinein. Hierin klingen mehrere Songs des Abends noch einmal an, vor allem „Everything’s Coming Up Roses“, der meistinterpretierte und -parodierte Song dieser Show.
Forts. folgt

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