Sei schlauer als der Klauer

betr.: Streaming- und Download-Angebote / Plagiate (Musik)

Wie ich höre, sind Spotify und Simfy wegen durchlässiger Filter in die Kritik geraten – im Stream befinden sich allerhand braune Bröckchen, wie „Computer BILD“ berichtet. Das kann nun wirklich niemanden überraschen, ist es doch gerade mal die jüngste Horrormeldung aus dem Cyberspace, jener finsteren Dimension voller dräuender Gefahren und tödlicher Geheimnisse. Selbst wer sich dem legalen musikalischen Download-Angebot aussetzt, watet unversehens knietief durch ein amoralisches Schattenreich. Da ist zunächst einmal die Mogelpackerei: „Alexander’s Ragtime Band“ ist kein Ragtime, „Waltzing Matilda“ kein Walzer, die „Dreigroschenoper“ keine Oper und Ron Goodwins „London Serenade“ keine Serenade. In Herb Alperts „Work Song“ singt überhaupt keiner, und in Schostakowitschs „Jazz Suite“ wird nicht ein einziger Takt gespielt, der irgendwas mit Jazz zu tun hätte. – Und dann wird auch noch ständig geklaut, aber das gehört im Internet ja wohl zum guten Ton. Und selbst unter den Künstlern, die die zu plündernden Schätze geschaffen haben, ist kaum ein creator ex nihilo

Die dreistesten Plagiate der Oper und Operette haben sich ja mittlerweile herumgesprochen – so läßt Paul Abraham das „Bachstelzenlied“ aus Gilbert & Sullivans „Mikado“ als „Good Night!“ in „Viktoria und ihr Husar“ wieder aufleben, macht Werner Richard Heymann aus Johann Strauß‘ Intermezzo aus „1001 Nacht“ „Du bist das süßeste Mädel der Welt“ und legt Emmerich Kálmán die ersten zehn Töne von Verdis „Aida“ in einem Refrain der „Csardasfürstin“ wieder auf: „Das ist die Liebe, die dumme Liebe“. Aber auch in der populären Musik der 20. Jahrhundertmitte gibt es schamlose Beispiele wuchernder Kleptomanie. So kehrte der Hans-Albers-Schlager „Goodbye Johnny“ wenig später als Hymne der Ostzone wieder. Auch an George Harrison wollen wir uns erinnern, dessen Song „My Sweet Lord“ gegen den Vorwurf verteidigt werden mußte, einem Lied namens „He’s So Fine“ zu ähnlich zu sein. Ärgerlicherweise war das Lied von George Harrison aber viel hübscher. Um den „Nature Boy“, einen frühen Hit für Nat ‚King‘ Cole, gab es einen jahrelangen Rechtsstreit, dessen Sieger heute in den Credits steht: Eden Ahbez. Somit bleibt auch der Verdacht an ihm kleben, die prägnante Tonfolge zu Beginn bei Antonín Dvořák gefunden zu haben, und zwar in der „Dumka“, im zweiten Satz von dessen „Quintett für Klavier für Violinen, Viola und Violoncello A-Dur, op 81“, Andante con moto.
Mantovanis „Piccolo Bolero“, der im Hintergrund des Loriot-Sketches „Das schiefe Bild“ zu hören ist, klingt wie eine knapp an der GEMA vorbeigeklaute Version von Ravels großem „Bolero“. Der Titel klingt wie eine vorauseilende Entschuldigung, die offenbar angenommen wurde.
Ähnlich anarchisch ge
ht es im Musical zu. Stephen Sondheim klaute für sein Musical „Sweeney Todd“ und dessen Song „The Worst Pies In London“ ausgerechnet eine längere Tonfolge aus „Tomorrow“, dem großen Hit des Erfolgsmusicals „Annie“ – das der insgesamt weniger produktive Charles Strouse wenige Jahre zuvor komponiert hatte. Irving Berlin gefiel sein eigener Hit „White Christmas“ so gut, dass er die ersten Töne des Refrains auch als Titelzeile für „It Only Happens When I Dance With You“ recycelte.
Und Hollywood? Ein Abgrund! Sogar Charlie Chaplin geriet auf seine alten Tage noch (einmal) auf die schiefe Bahn: sein letztes Filmthema „This Is My Song“ ist eben nicht seiner sondern beim knapp 30 Jahre älteren Max-Steiner-Motiv „It Can’t Be Wrong“ abgeschrieben, das im Bette-Davis-Film „Now, Voyager“ zu hören war. Chaplin sagte immer, er habe es seinem lange gehegten Opernprojekt entrissen und diesen Traum damit auch ad acta gelegt.
Die festliche Vorspann-Musik zu Hitchcocks „Frenzy“ (wiederum Ron Goodwin) klingt schon etwas nach „Morgen kommt der Weihnachtsmann“. Aber jetzt halten’ sich fest! Die ersten drei Refraintöne der Jahrhundert-Kinoschlager „Moon River“ (Henry Mancini, 1961) und „Goldfinger“ (John Barry, 1964) sind identisch! Hätten Sie’s gemerkt?
Kommen wir zum Deutschen Fernsehen. Die ersten Töne des Verses von „My Rifle, My Pony And Me“ – das Lied, das Dean Martin und Ricky Nelson in einer Kampfpause in „Rio Bravo“ singen – waren ab 1983 das Jingle der neu designten ARD.
Es gab auch einen inoffiziellen Text dafür:ARD_Jingle

Doch das alles ist eine Wissenschaft für sich. Das allseits beliebte Marilyn-Monroe-Video „Diamonds Are A Girl’s Best Friend“ aus Jule Stynes „Gentlemen Prefer Blondes“ kehrte in „I Love Melvin“ kurz darauf als „A Lady Loves“ wieder … das heißt, das war eigentlich kein musikalisches Plagiat. Es war eher ein inszenatorischer Nachbau … mit deutlichen Anleihen bei „The Great Lady Has An Interview“ aus „Ziegfeld Follies“ … einer Nummer, die wiederum bei Kurt Weill geklaut ist, bei der Eröffnungsnummer von „Lady In The Dark“ – Puh, so ein Cyberkrimineller muß aber wirklich den Überblick behalten, sonst geht auf einmal alles drunter und drüber … und am Ende komponiert er aus Versehen noch selber was. Das wäre dann aber wirklich ein Verstoß gegen die guten Sitten des Internet-Zeitalters.

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