„In der Reihenfolge ihres Auftretens“ (3/3) – Zum 1. Todestag von Marcel Reich-Ranicki

betr.: Marcel Reich-Ranicki / „Das literarische Quartett“ / Kleinkunst und politisches Kabarett (80er Jahre)

Vor einiger Zeit ertappte ich mich bei dem Wunsch, etwas völlig Albernes zu besitzen: eine Buchstütze, die Marcel Reich-Ranicki nachgebildet war. Dieses Ding war doch mal überall verkauft worden, sogar in Buchhandlungen. Als ich mich nun auf die Suche danach machte, stellte ich fest, dass diese Zeiten gut 20 Jahre zurücklagen – und dass das Teil nicht mehr zu haben war. Meine Sehnsucht nach solchem Nippes hat einen Grund, den ich ohne zu zögern bekenne: er fehlt mir, der große Kritiker. Er fehlt mir dreifach: als Medienphilosoph, als Autor und als Entertainer.
Natürlich hat er meine Verehrung nicht nötig, und selbstverständlich gehen seine Verdienste weit über seine späte Bildschirmpräsenz hinaus – hier und heute will ich aber nun genau über diese nachdenken. Gerade seine „letzte Karriere“ ist nämlich verblüffend, geradezu tröstlich.

Das literarische Quartett“ ging zu einem Zeitpunkt auf Sendung, als ich mich als tingelnder Kabarettist abmühte. Noch war unser Land nicht wiedervereinigt. Ich klapperte also die westdeutschen Kleinkunstbühnen ab und hoffte, irgendwann würde der Rundfunk mal ein komplettes Programm von mir übertragen. Als die Mauer fiel, strömten wir alle in den Osten, und einige von uns kamen dort auf Anhieb prächtig an, andere nicht. (Ich gehörte zu den anderen.) Wer als „Satiriker“ vom Feuilleton anerkannt werden wollte, der mußte im Laufe des Abends irgendwann mindestens einmal Helmut Kohl nachäffen. Dabei war es egal, wie gut oder schlecht die Parodie handwerklich geriet und was damit inhaltlich transportiert wurde – wer Kohl brachte, war politisch relevant, wer es unterließ, der war es eben nicht. Einer meiner Kollegen schreckte nicht einmal davor zurück, noch den verstorbenen Franz Josef Strauß im Munde zu führen, da er den nun mal gut draufhatte – als „grantelnden Münchner im Himmel“. Die Presse wieherte dankbar angesichts dieser tagespolitischen Stichhaltigkeit. Jenseits der wohlfeilen Udo-Lindenberg- und Willy-Brandt-Schoten war noch jemand in aller Parodisten Munde, der einen ganz ungewöhnlichen Beruf ausübte: Literaturkritiker. Mir entstand in den betreffenden Acts meiner Kollegen der Eindruck, es handele sich hier um ein C-promintenes Unikum, der außer einem lustigen Sprachfehler und überschüssigem Temperament nichts aufzuweisen hätte. Irgendwann geriet ich zufällig hinein in eine Sendung mit dem Original, und mir war klar, warum mich die Parodien so wenig neugierig gemacht hatten: sie hatten das Wichtigste weggelassen.

Reich-Ranickis Fernsehsendung war bekanntlich nur das Nachspiel zu einer beispiellosen publizistischen Laufbahn in der jungen Bundesrepublik, aber sie erlaubte dem Kritiker um die Zeit seines Pensionsalters, ein Publikum für Literatur zu interessieren, das er mit seiner seriösen Zeitungsarbeit nie erreicht hätte. Klar – ich war mir in diesem Augenblick erst einmal selbst der Nächste. Ich hatte so etwas wie „Das literarische Quartett“ noch nie gesehen, nicht mal in natura: vier Menschen zankten sich und droschen verbal aufeinander ein, hatten aber ein kulturelles Thema, gewisse Abläufe festgelegt und waren allesamt gescheit, kultiviert und schlagfertig.

Ich bin zwar jemand, der keine zwei Stationen mit der U-Bahn fährt, ohne etwas Lesbares mitzuführen, aber (längere) Romane kann ich etwa seit meinem 20. Lebensjahr nicht mehr durchhalten (- wenn ich Glück habe, kommt es zu einem gut gemachten Hörbuch). Am liebsten lese ich ohnehin Biographien bzw. Sekundärliteratur, Artikel oder eben Kurzgeschichten und Comics. Dank Reich-Ranicki erfuhr ich nun, was ich belletristisch so alles verpaßt hatte, las tatsächlich noch den einen oder anderen Roman und wurde umfassend über die Zeitgeschichte ins Bild gesetzt. Fast alles, was ich über das 18. und 19. Jahrhundert weiß, hörte ich zuerst in dieser Sendung (um es freilich später zu vertiefen) – in der Schule hatten wir keine Minute lang über das Mittelalter, die Renaissance, die Französische Revolution oder gar die Bundesrepublik Deutschland geredet – vom Untergang Kakaniens ganz zu schweigen -, sondern vier Jahre lang ausschließlich über das Dritte Reich. Ich staunte, wie leicht es ist, Bildung aufzunehmen, wenn sie in Form eines (Streit-)Gespräches vermittelt wird. – „Man schlägt sich, aber man bleibt Freund“, wie es bei Guareschi so schön heißt. Als ich versuchte, diese Streitkultur im Freundeskreis mit nicht-literarischen Themen umzusetzen, erlebte ich natürlich eine Bauchlandung. „Das literarische Quartett“ folgte gewissen Spielregeln, die sich im wirklichen Leben schwer etablieren lassen.
Ich schwor schon beim ersten Mal: sollte ich jemals wieder eine Folge dieser Sendung versäumen, müßte mich auf der Stelle der Schlag treffen! Hin und wieder vergaß ich leider doch schonmal einen Termin. Nie werde ich meine Dankbarkeit vergessen, als ich nach einem Gastspiel in mein Hotelzimmer kam – ich hasse es, in Hotels zu übernachten! – und gerade, als ich den Fernseher einschalte, beginnt ein „Quartett“ – und ich lerne, wer Sándor Márai ist. Zum Glück bin ich nach der Show nicht noch ausgegangen …

Gemeinsam mit dem Rest der breiteren Öffentlichkeit erfuhr ich die Einzelheiten der Biographie Reich-Ranickis erst einige Jahre später. Wie auch Hans Rosenthal – man verzeihe mir diesen Rösselsprung – hat er sich für ein Leben und eine Medienlaufbahn in jenem Lande entschieden, das er nur um Haaresbreite überlebt hatte. Nie hatte ich den Eindruck, er würde sich diesen Umstand strategisch zunutze machen, was mir sehr imponierte. Und er war frei von aller Grinserei und Gefallsucht. Er biederte sich niemals an – aber man konnte ihn aus der Reserve locken. Als er von Alfred Biolek gefragt wurde, wie er zu der Einordnung als Entertainer stehe, die kürzlich jemand an ihm vorgenommen hatte, errötete er fast vor so viel Bestätigung und meinte, das betrachte er als großes Kompliment. Spätestens in diesem Augenblick habe ich mich in ihn verliebt.

Zu Reich-Ranickis Verdiensten gehört weiterhin, dass er in seiner Sendung drei Leute um sich scharte, von denen zwei sich als verlässliche, anhaltende Diskussionsteilnehmer erwiesen (– die zum Quartett fehlende vierte Person war ein wechselnder Gast, zumeist aus der journalistischen Welt).
Hellmuth Karasek (
DER SPIEGEL, Hamburg) teilte mit mir diverse Interessen und Vorlieben. Daher habe ich zeitweise alle seine Bücher und Artikel gelesen – und als Filmhistoriker genießt er bei mir einen gelinde gesagt schludrigen Ruf. (Allein über seinem Billy-Wilder-Buch möchte ich ein Tintenfass ausschütten!) Seine Kolumnen kamen mir allzu geschwätzig und aufgepustet daher. Im „literarischen Quartett“ aber wurde er für mich zu einem stabilen Element zwischen dem beinharten Historiker M.R.R. und der beinhart vernünftig argumentierenden Frau Löffler. Als jemand, der fast keines der besprochenen Werke kannte – was das Vergnügen an der Sendung nicht schmälerte – wußte ich Herrn Karaseks Urteil immer besonders zu schätzen. Er schien mir stets der am wenigsten voreingenommene Kritiker zu sein. Seine Bewertung war grundsätzlich redlich und einleuchtend, und kein anderer Teilnehmer der Runde warf sich so beherzt und mit so viel persönlichem Engagement in die jeweilige Bresche. Dem Publikum gegenüber gab er den gutmütigen Hustinettenbär, der die breite Resonanz seiner Scherze emsig kontrollierte. Hin und wieder stellte er sich aber auch auf die Hinterpfoten und las – entgegen der Anweisung von Direktor Reich-Ranicki – von mitgebrachten Zetteln besonders wirksame Textpassagen der diskutierten Bücher ab.
Für die köstliche Sigrid Löffler (PROFIL, Wien) war die Schublade der gouvernantenhaften Spielverderberin für viele schnell gefunden – und das war ebenso boshaft wie unzutreffend. Hin und wieder fand sich Frau Löffler naturgemäß in der Rolle der Verfechterin feministischer Grundbegriffe wieder, und an den Zoten – die ja in der edelsten Weltliteratur vorkommen – hatte sie im Zweifelsfalle weniger Freude als ihre männlichen Gesprächspartner, aber ihre Urteile waren – wie auch die der übrigen Teilnehmer – letztlich nicht vorherzusagen. Wie wichtig Sigrid Löffler für das Gelingen des Formates war, wurde überdeutlich, als es im Jahre 2000 auf der Expo in Hannover zu einem tragischen Zerwürfnis kam. Der jahrelange Disput hatte im Hintergrund wohl zu einer tieferen Kluft jenseits einzelner Buchtitel geführt, deren Einzelheiten ich in meinem Mäusekino wohl nie erfahren werde. Was der Öffentlichkeit nun wochenlang zugänglich wurde, war das Scharmützel Karasek / M.R.R. gegen Löffler, das schließlich dazu führte, dass sie aus der Sendung ausstieg. Hellmuth Karasek ließ seine gewohnte Galanterie fahren und gab ein nachtretendes STERN-Interview, das eine Versöhnung vollends unmöglich machte (- wessen er sich auch noch brüstete). Reich-Ranicki hat später offen zugegeben, er habe die Sendung sowieso satt gehabt, aber um Frau Löffler den Ruch der Unentbehrlichkeit nicht anzutun, habe er ächzend noch ein paar Folgen drangehängt – mit der staubtrockenen aber ungefährlichen Iris Radisch als neuer fester Teilnehmerin. Diemut Roether bemerkte anlässlich der Umbesetzung in der
taz, „dass die Idee des Literarischen Quartetts nur dank der – manchmal etwas übellaunigen – großmütterlichen Strenge funktionierte, mit der Sigrid Löffler den Kasper Karasek und das Krokodil Reich-Ranicki an literarische Kriterien und Argumente erinnerte.“* Nach 20 Minuten ertrug ich diese Hinrichtung meiner Lieblingssendung nicht mehr. Es wurde noch ein Jahr lang artig gehüstelt, gekuschelt und rumgelutscht, dann war Schluß.

Immerhin: auf meine regelmäßige Dosis Reich-Ranicki mußte ich einstweilen nicht völlig verzichten. Ich las / sah / hörte seine regelmäßigen Interviews, genoss seine Artikel und seine Leserbrief-Kolumne in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und las wiederholt seine famose Autobiographie sowie jeden Artikel über ihn. Ich freute mich unendlich darüber, dass er „noch da war“ und dass er in einer Medienlandschaft zu solcher Popularität gelangt war, die auf all das, was er zu bieten hatte, sonst nicht den geringsten Wert legte. Sein „letzter großer Fernseh-Auftritt“ geriet dann noch einmal zu einer Sensation, als er den Deutschen Fernsehpreis nicht annahm, da ihm das ansonsten auf dieser Gala Gezeigte und Ausgezeichnete qualitativ unerträglich war. Das Gezeter dieses Alten, der einst zu den regelmäßigen Besuchern der Theateraufführungen von Laurence Olivier gehört hatte, war dem Gala-Publikum vollkommen unverständlich, wie man in ihren ratlos-verstörten Kindergesichtern deutlich lesen konnte.

Vor einem Jahr war es dann zuende. Hellmuth Karasek ließ in den nächsten 36 Stunden nach der traurigen Meldung keine Livesendung aus und arbeitete sich bald, wie der SPIEGEL unlängst erkannte, auf den freigewordenen Posten des „Kritikerpapstes“ vor. Ein letztes Mal gab es ganz viel Reich-Ranicki auf allen Kanälen. Bei „Markus Lanz“ lief einer dieser obligatorischen Zusammenschnitte. Er zeigte in etwa 30 Sekunden einen unentwegten Choleriker und allzeit sprungbereiten frivolen Opa, in dessen Urteil es manchmal „Hui“ und sonst generell nur „Pfui“ gab – was niemand bestätigen kann, der auch nur eine einzige seiner Sendungen wirklich vollständig angeschaut hat. Die ganze Runde nickte den Flachsinn emsig ab. Ausgerechnet Til Schweiger hatte als einziger die Größe, sinngemäß zu sagen: „Der Name sagt mir nichts, aber ich fand die Clips, die Sie eben gezeigt haben, sehr lustig!“

Die Wogen der Nachwelt schlugen über Marcel Reich-Ranicki zusammen. Sie begruben ihn. Sie beeilten sich damit.

* taz vom 4.5.2001

Dieser Beitrag wurde unter Fernsehen, Literatur, Monty Arnold - Biographisches, Portrait abgelegt und mit , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert