Is‘ ja unglaublich!

betr.: Gesellschaft / Soziales Leben

Gestern präsentierten vier Studentinnen und Studenten der Joop Van den Ende Academy ihre Solo-Projekte, und ich hatte die Freude, zusehen zu dürfen: Sina Pirouzi, Selina Mai, Dominik Müller und Berus Komerschela. Drei der Programmpunkte beschäftigten sich – mehr oder weniger hauptsächlich – mit dem heiklen Thema „Lügen“ im allerweitesten Sinne. Hier kommt nun mein Senf dazu:

Ein Versuch über das Lügen*

Das urbane Leben ist in vielerlei Hinsicht so etwas wie ein sportlicher Wettkampf – ganz frei von Tricks und Finten kommt man nur durch, wenn man auf einer einsamen Insel lebt oder im Koma liegt. Und so ein Wettkampf fordert moralische Opfer. Angeblich lügen wir alle pausenlos, oder doch wenigstens schrecklich oft. Die nachsichtigeren Zählungen gehen von 50mal aus, strengere Veritologen sprechen von mindestens 220 Lügen täglich. Aber vielleicht stimmt das ja auch gar nicht.

Über die Lüge an sich ist eine Reihe von Lügen in Umlauf, so z.B. die, dass der Lügende stets in erster Linie sein Gegenüber täuschen wolle. Die schädlichsten Lügen werden aber gar nicht direkt an das Gegenüber gerichtet, sondern zunächst einmal an sich selbst. Der Lügenbold redet sich etwas ein und erwartet dann, dass sein Gegenüber mitspielt, ihm widerspruchslos zuhört und ihm so passiv eine Absolution für seinen schiefen Blickwinkel erteilt. Der andere soll das aus Höflichkeit tun oder weil er die Lüge ja sicher nicht bemerkt hat. Und außerdem auch, weil er ja vielleicht selbst in kurzer Zeit wieder einmal diese stille Unterstützung brauchen wird.
Im Grunde, sollte man hier nicht von einer glatten Lüge sprechen, sondern von einem erweiterten Selbstbetrug. Solche Lügen sind besonders schäbig, denn man zieht Unschuldige mit hinein, und in aller Regel trifft es naturgemäß Menschen, denen man sich freundschaftlich verbunden fühlt.

Ein weiterer großer Irrtum über das Lügen besteht in der Ansicht, eine Lüge müsse eine Aussage sein – das ist zumindest der Kern zahlreicher Selbstrechtfertigungen. Und es ist gelogen! Eine Lüge kann in einer gezielten Nicht-Aussage bestehen, einer absichtlichen kleineren Auslassung, in einer hinterlistigen Falschbetonung oder Pause, einer Geste in die falsche Richtung, einem Hüsteln am richtigen Platz.

Der Klassiker ist die nicht eingehaltene Ankündigung, ein Modell, das ich im Laufe der Jahre für mich persönlich als die schlimmste Variante herausgefunden habe. Natürlich kommt so etwas immer mal vor, aber nicht wenige Menschen tun es gewohnheitsmäßig – vielleicht, weil sie sich so gerne als große Macher wahrnehmen möchten. Großspurige Ansagen, meist freiwillig und ohne Druck vorgenommen, denen dann nichts folgt, deprimieren mich in einer Weise, die mich den Respekt vor meinem Gegenüber verlieren läßt.

Für mich wird eine Lüge aber erst in dem Augenblick zu einem Ärgernis, da sie dem Vorhaben dient, mich für dumm zu verkaufen. Sobald ich das bemerke, verzeichne ich einen Heiterkeitsverlust. Und sein wir doch (ausnahmsweise) mal ehrlich: so geht es doch jedem von uns. Es ist sicherlich einer meiner größten Fehler, dass ich es in derartigen Momenten an der nötigen Gelassenheit fehlen lasse. Ich verbreite dann einen Lärm der Entrüstung, in dem sich der Schurke meist unbehelligt davonmachen kann.
Eine lieblos gefertigte Falschaussage kränkt mich ebensosehr wie eine Binsenweisheit, die darauf baut, ich möge nicht protestieren sondern mich für einen dämlichen Ratschlag auch noch bedanken („Hast du ihn denn einfach mal gefragt, ob er nicht damit aufhören möchte?“), wie ein offensichtliches Ausweichmanöver („Wer ist denn schon normal?“), unverlangt geheucheltes Mitgefühl („Dein Husten hört sich aber gar nicht gut an!“) oder gut(gemeint)e Tipps, die jedem halbwegs intelligenten Zuhörer die Schädeldecke heben („Sage nie, dass du jemanden hasst! Mit Haß triffst du doch immer nur dich selbst!“ oder meine Lieblingshorrorphrase: „Es gehören immer zwei dazu!“).

Lassen wir also einmal die großen Klassiker im Königreich der Unwahrheit beiseite – wie „Die Renten sind sicher!“, „Gratis!“ oder „Ankunft in Hamburg-Altona um 17.05 Uhr“. Solche Beispiele würden nicht nur den Rahmen sprengen, sie würden auch vom spannenderen Thema ablenken: der Lüge unter Freunden und näheren Mitmenschen. Und das wäre schade! Die Lüge ist nämlich ein probates Meß-Instrument. An ihrem Niveau läßt sich ablesen, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind. Und das ist ja schonmal besser als nix.
Wenn wir es denn so genau wissen möchten …


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Dies ist das Vorwort zum Buchmanuskript „Die 15 größten Propagandalügen der Westlichen Welt (… und warum sie jeder glaubt)“

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