Drei Geschichten über den Cyberspace

betr.: Franz Kafka / Herman Melville / Richard Matheson

John Irving beschreibt in seinem Roman „Garp und wie er die Welt sah“ die skurrile Geschichte der Zeugung seines Helden, die es leider nicht in die berühmte Verfilmung geschafft hat. Garps künftige Mutter läßt sich in einem Lazarett von einem wehrlosen Sterbenden begatten. In buchstäblich letzter Minute stiehlt sie ihm seinen Samen. Als ich diese Textstelle las, war ich noch viel zu brav und zu verklemmt, um den drastischen Humor darin zu schätzen, aber das traurige Schicksal jenes unbekannten Soldaten, der buchstäblich dabei ist, sich nach und nach infolge seiner Verletzungen aufzulösen, kam mir bekannt vor. Irgendwann – Monate später – fiel mir auch wieder ein, woher ich das Motiv kannte. Und es sollte mir noch öfter begegnen. Mindestens drei Klassiker der Weltliteratur sind ihm ausschließlich gewidmet.

  • Herman Melville: „Bartleby The Scrivener“ / “Bartleby, der Schreiber“ (veröffentlicht 1853)
    Kurzinhalt:
    Ein namenloser Rechtsanwalt in der Wall Street erzählt uns von einer Schreibkraft in seinem Büro. Sein junger Angestellter heißt Bartleby, ist zunächst sorgsam und zuverlässig, aber auch etwas schrullig und gern für sich – hinter einer faltbaren Trennwand. Eines Tages reagiert er auf eine gewöhnliche Anweisung mit dem Satz: „I would prefer not to!“ – „Ich ziehe vor, es nicht zu tun!“ Nach diesem Auftrag verweigert er sich bald auch allem Übrigen. Nach Feierabend geht er nicht mehr nach Hause, er beginnt sich hinter seinem Paravent karg aber häuslich einzurichten. Arbeiten mag er nicht mehr. Als der Erzähler versucht, ihn von dort fortzulocken, reagiert er wie gehabt: „I would prefer not to!“ Schließlich zieht der Rechtsanwalt selber aus, und sein Nachfolger ist weniger zimperlich. Der läßt den schrägen Vogel kurzerhand von der Polizei abholen. Im Gefängnis verweigert Bartleby die Nahrungsaufnahme und stirbt – den Bemühungen seines alten Arbeitgebers zum Trotz, der versucht, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen und für ihn zu sorgen. Immerhin erfahren wir noch, Bartleby habe früher bei der Post gearbeitet: im Lager für unzustellbare Sendungen.
    Der Autor:
    Für Herman Melville ist der Aufkleber schnell zur Hand: er ist der Autor von „Moby Dick“. Dieser heute als Klassiker geltende Roman verhinderte nicht, dass sein Schöpfer zuletzt vergessen war, sogar schon verfrüht als tot galt. Die Wahrheit war möglicherweise schlimmer: der ehemalige Seebär versauerte im Alter auf einem Posten als Hafenbeamter beim New Yorker Zoll.
  • Franz Kafka: „Die Verwandlung“ (veröffentlicht 1915)
    Kurzinhalt:
    Auf den berühmten Buchanfang um jenen Gregor Samsa, der eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht und sich zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt findet, einem überlebensgroßen Käfer, folgt die fast ebenso berühmte Handlung: Seit der Vater fünf Jahre zuvor sein Geschäft verloren hat, bringt Gregor die Eltern und seine Schwester Grete als Handelsvertreter durch – das ist nicht die Laufbahn, die er sich gewünscht hatte, dennoch stand er – bis zu jenem Morgen – in dem Ruf, gewissenhaft zu sein. Jetzt krabbelt er die Wände hoch und zieht einer frischen Mahlzeit leicht verdorbenes Essen vor. Seine neue Lage bringt das familiäre Machtgefüge rasch durcheinander. Schließlich ist Gregor vom Ernährer zu einer Last herabgesunken, zu einem Ding. Die Familie vermietet Räumlichkeiten, um sich zu finanzieren, der Vater läßt sich als Diener anstellen, Mutter wird Näherin, Grete Verkäuferin. Gregor verkümmert unterdessen in einer Besenkammer. Ein besonders pingeliger Gast der Familie entdeckt das Tier trotzdem, und es gibt mächtig Ärger. Als man Gregor daraufhin einschließt, tut er der Familie den Gefallen zu sterben. Große Erleichterung – das Leben kann wieder seinen gewohnten Lauf nehmen.
    Der Autor:
    Soeben ist der dritte Band der nun vollständigen Buchreihe über das Leben Franz Kafkas erschienen, das gerühmte Mammutwerk von Reiner Stach*. Dort erfahren Sie noch allerhand Neues über den beliebten Prager Klassiker.
  • Richard Matheson: „The Incredible Shrinking Man“ / “Die unglaubliche Geschichte des Mr. C.“ (erschienen 1956, verfilmt 1957)
    Kurzinhalt:
    Ein junges Ehepaar macht eine Bootspartie. Als der Mann, Robert Scott Carey, seine Frau unter Deck schickt, um Bier zu holen, wird er für kurze Zeit von einer seltsamen Wolke eingehüllt. Der Vorfall ist fast vergessen, als er Monate später plötzlich langsam zu schrumpfen beginnt. Die Wissenschaft – also zunächst einmal der Hausarzt – steht vor einem Rätsel, da der junge Bursche ansonsten kerngesund ist. Doch das schreckliche Syndrom nimmt seinen Lauf. Irgendwann kommt der Prozeß zum Stillstand, und Carey freundet sich mit einer Liliputanerin vom Zirkus an. Kurz darauf schrumpft er weiter und zieht in ein Puppenhaus innerhalb seines Heimes um. Auf der Flucht vor der nun lebensgefährlichen Hauskatze stürzt er in den Keller. Seine Frau hält ihn für tot und zieht aus – währenddessen kämpft der immer kleiner Werdende mit einer Spinne, die er endlich zur Strecke bringt. Seine Befürchtung, er könnte schließlich ganz verschwinden, erfüllt sich nicht. Zuletzt sehen wir ihn mit weihevoller Neugier in die seltsame Welt blicken, die nun vor ihm liegt.
    Der Autor:
    Richard Matheson ist nicht nur einer der führenden Science-Fiction-Autoren der 20. Jahrhundertmitte, er ist auch ein wichtiger Lieferant erfolgreicher Filmstoffe, und bis in die Gegenwart reichen deren Adaptionen. „I Am Legend“ wurde 2007 zum dritten Mal verfilmt, diesmal mit Will Smith als „Omega-Mann“, der im verödeten New York mit Seuchen-Zombies kämpft. (In Mathesons erster veröffentlichter Kurzgeschichte spielte übrigens ein mißgestaltetes Kind, das die Wände hochkrabbeln konnte, die Hauptrolle, das von seiner beschämten Familie im Keller angekettet wurde. Wer mag, kann hier Kafka klopfen hören …)
    Wie sich das gehört, begegnete mir „Mr. C.“ zunächst als Film, in der berühmten Version von Jack Arnold. Als Halbwüchsiger war ich freilich richtiggehend verärgert darüber, dass der Held am Ende nicht erlöst wird und wieder wächst. Der philosophische Schlußmonolog befriedigte mich nicht im Geringsten! Mein Ärger war so groß, dass ich den Film immer wieder fasziniert ansah und schließlich auch das Buch las – in dem eine Reihe von Aspekten hinzukommt, die schon aus sexualmoralischen Gründen in der schwarz-weißen Filmfassung gefehlt hatten. Und ich ärgerte mich weiter – so sehr, dass ich diese Geschichte nie vergessen konnte.

Sind diese drei Erzählungen schräg / durchgeknallt / bizarr? Nicht besonders.
Heute würde der Held einer solchen vermutlich einfach das Smartphone zücken, sich in sein „Second Life“ zurückziehen und vielleicht darauf warten, dass ihm „andere in diese neue Welt folgen“, wie Robert Scott Carey es in seinem Epilog so schön ausdrückt. Vielleicht würde er darauf warten, vielleicht zöge er vor, es nicht zu tun.

* S. Fischer Verlag, 2014

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2 Antworten zu Drei Geschichten über den Cyberspace

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