Der Saurier und Du

betr.: Clemens Setz zum 32. Geburtstag

Dass es das “Literarische Quartett” nicht mehr gibt, ist ohnehin ein großer Jammer, aber angesichts eines Objektes wie “Indigo” überkommt mich die schiere Untröstlichkeit. Nicht auszudenken, welches Vergnügen es bereitet hätte, den Herrschaften beim Zerpflücken und Rezensieren dieser Geschichte und ihres Schöpfers zuzuhören.
“Indigo”, der zuletzt erschienene Roman von Clemens Setz, spielt mit der Idee einer mysteriösen Krankheit, an der weniger die Betroffenen leiden als ihre unmittelbaren Mitmenschen. Gleich nach der Geburt geht von den Patienten eine unheilvolle Wirkung aus: ihr Gegenüber befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Das bald Indigo-Syndrom genannte Phänomen ist nicht heilbar, aber es wächst sich mit der Zeit aus. Bis dahin müssen die betroffenen Kinder isoliert werden. Dazu wird ihnen ein abgelegenes Internat errichtet.
Es gibt hier freilich auch einen Helden und eine „richtige“ Handlung, aber mich faszinierte vor allem der sauber konstruierte fiktive historische Hintergrund: Im Rückblick wird auf zwei Zeitebenen erzählt, wie dieses Phänomen auftrat, wie lange es dauerte, bis sich irgendjemand einen Reim darauf machen konnte und was die Betroffenen persönlich auszustehen hatten.
Der Autor schafft sich ein haarsträubendes Tableau und weiß dann auch darin herumzulaufen – ein seltenes Zusammentreffen. Weiterhin ist das Werk gespickt mit liebevoll faksimilierten Dokumenten und literarischen Miniaturen. (Allein die Geschichte über die „Zigarettenmänner“, die aus ihrem Leben fliehen und ja schließlich irgendwo bleiben müssen ist ein kleines Kunstwerk für sich!)

Mit Büchern konnte der Schriftsteller Clemens Setz lange nichts anfangen. Er vertrieb sich die Zeit mit Computerspielen, bis ihn eine Erkrankung und ein Gedicht von Ernst Jandl den heutigen Weg einschlagen ließen. Daraufhin begann er exzessiv zu schreiben. Schon sein Debütroman wurde 2007 für den „Deutschen Buchpreis“ nominiert, tatsächlich ausgezeichnet wurde er 2015 mit dem Preis der „Leipziger Buchmesse“.
Clemens Setz kam in Graz zur Welt, wo er Mathematik und Germanistik studierte und noch heute als Übersetzer und freier Schriftsteller lebt. Wie viele seiner Figuren ist auch der Autor ein hochsensibler Synästhetiker, bei dem Alltagsgeräusche wie das Rascheln trockener Blätter oder das Knistern von Stoff und Papier innere Farbenspiele und körperliche Empfindungen auslösen.

Dass ich nach einer einzeiligen Inhaltsangabe in einem längeren SPIEGEL-Artikel sofort wild darauf war, „Indigo“ zu lesen, lag natürlich an seinem unwiderstehlichen Plot, hatte aber auch damit zu tun, dass ich Clemens Setz in der Hamburger Veranstaltungsreihe „Seitensturm“ schon einmal persönlich erleben durfte – ich glaube, sein Erzählungsband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ und eine Auszeichnung mit dem „Ingeborg-Bachmann-Preis“ waren der aktuelle Aufhänger.
Da ich mich an seine üblicherweise  sehr umfangreichen Romane nicht recht herantraue, freue ich mich über seine gelegentliche Gastbeiträge in seriösen Zeitungen, Interviews oder Radio-Auftritte.
Im Vorwort zum Bildband „Die verlorenen Welten des Zdenek Burian“, in dem historische Saurier-Illustrationen versammelt sind, beschreibt er zunächst „den aristokratischen Nullblick des Riesennashorns, diese unglaubhafte Selbstsicherheit mitten in der Einöde. Oder den sonderbaren Chasmosaurus mit seinem riesigen keilförmigen Kopf. Er wirkt als wäre er festgeklemmt in der Luft, in einer evolutionären Sackgasse“. Er erzählt aber auch, wie „missverstanden“ diese urzeitlichen Ungetüme auf ihn wirkten, als er sie Jahrmillionen später als Monumente in Crystal Palace wiedertraf.
In seiner Rezension eines Bandes mit Erzählungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 schildert er ein Dilemma, wie es wohl jeder Bücherwurm schon einmal erlebt hat: „Eigentlich wollte ich über Léon Bloy schimpfen, aber seine Geschichten aus ‚Blutschweiß‘ haben mich tagelang umgetrieben.“ Wenn er das näher ausführt, will ich dieses Buch auch lesen, und sein Autor wird sich auch stilistisch an der Rezension messen müssen.

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