Charlie Browns verschollene Nachbarskinder

betr.: 94. Geburtstag von Charles Schulz / Bud Blake und „Tiger“

Das Wichtigste zuerst: heute wäre Charles M. Schulz, der Vater der „Peanuts“ annähernd 100 Jahre alt geworden. 52 Jahre lang schrieb und zeichnete er höchstpersönlich tagtäglich einen Comic-Strip, nebenbei entstanden Sonntagsseiten, Sonderbände, Kinofilme, mehrere TV-Serien und Unmengen an Spielzeug und Merchandising. Das Musical „You’re A Good Man, Charlie Brown“ erlebte seine deutsche Premiere 1991 im schönen Hamburg.
Nun werden Sie sagen: das wissen wir doch schon alles. Recht haben Sie – aber das war ja auch nur mein würdiger Aufhänger für einen Nachbarn im Geiste und Kollegen des unvergessenen Charles M. Schulz: Bud Blake.

Auch Blake zeichnete Comic-Strips, in denen (noch unvernetzte) amerikanische Vorstadt-Kids und ein Hund eine Kindheit erlebten, die uns heute schon fast an „Tom Sawyer“ denken läßt. Die Vorzüge des weitaus berühmteren Schulz und seiner „Peanuts“ liegen auf der Hand: Charlie Brown und seine Freunde bilden einen Mikrokosmos, der als Satire auf die Welt der Erwachsenen eine geniale Schöpfung darstellt. Dabei werden die Erwachsenen niemals selbst abgebildet – nicht mal im Off. In den Klassenzimmer-Szenen der TV-Serie ertönt nur wortloses Gequake, wenn Fräulein Othmar zu den Schülern spricht. (In seinen letzten Lebensjahren erlaubte Schulz leider, dass dieses Gesetz gebrochen wurde.) Der stumme, hedonistische Beagle Snoopy ist einer der grandiosesten Charakterköpfe der Comic-Geschichte – nichts Vergleichbares findet sich bei Blake.
Dennoch lohnt ein Blick auf die Dinge, die Bud Blake Charles M. Schulz (verzeih’n Sie!) voraus hatte – und warum es mich so betrübt, dass „Tiger“ (bei uns: „Leo“) völlig vergessen ist.

Tiger
Wo Charles Schulz‘ Zeichnungen die notwendigen Träger des Textes, der Pointe, der Botschaft sind, schafft Blake – mit kaum größerem Aufwand – mehrdimensionale Räume, in die man hineinsteigen möchte. Seine Sonntagsseiten erlauben sich sogar behutsame Kameraperspektiven. Keine Unterhaltung wird einfach nur verbal geführt: sie ist choreographiert, inszeniert, beweglich. Das drängt sich jedoch niemals auf – man merkt es nur dann, wenn man es möchte. Bei Schulz lache ich über die Pointen im Dialog. Bei Blake lache ich außerdem über die Mimik der Heldinnen und Helden, die Posen, die Requisiten, die kommentierenden Gesten des Hundes Stripe. Die „Peanuts“ beziehen ihren Witz aus ihrer intellektuellen Reife, sie sind überlegene Intelligenzbestien in Kinderkörpern. Blakes Kinder sind wirkliche Knirpse, und ihr Kindermund hat sehr viel mit dem Leben zu tun, das Kinder heute nicht mehr führen dürfen. Während Schulz‘ Konzept seiner Zeit voraus war – so etwas wie ein Abitur haben Lucy, Peppermint Pattie und Schröder gar nicht mal mehr nötig – gewähren uns Tiger, Hugo und Melone den Blick in ein verlorenes Paradies, das ohne jeden Kitsch auskommt. (Interessanterweise orientierte sich Bud Blake nicht etwa an den Erlebnissen seiner Kinder, sondern erinnerte sich der eigenen Vergangenheit.)

In ihren Glanzzeiten erschienen die Abenteuer von Bud Blakes kleinen Strolchen immerhin in 400 Zeitungen weltweit (die „Peanuts“ schafften 2.600) – außerdem im „Junior“-Heftchen aus der Apotheke und in einer Fernsehzeitschrift. Ich schnitt damals ein paar davon aus und klebte sie in eine China-Kladde – leider nur sehr wenige davon. Als mir diese Kladde vor einigen Monaten unerwartet beim Aufräumen in die Hände fiel, war das ein coup de foudre. Ich hatte sofort das Bedürfnis, selber (wieder) zu zeichnen. Ich ertappte mich dabei, dass ich für mehrere Minuten vergaß, wie grauenhaft ich meine eigene Kindheit fand – und dass ich überlegte, welches Kind ich persönlich kenne und vielleicht heute noch anrufen könnte.
Meine Ergriffenheit war genauso groß wie die an jenem Tag, als ich den Fehler gemacht habe, alte Briefe nochmals zu lesen und mich an Menschen zu erinnern, die es nicht mehr gibt.
Und mir fiel auf, dass ich „Tiger“ völlig vergessen hatte.
Das passiert mir kein zweites Mal!

Der Bulls Pressedienst hat „Tiger“ – inzwischen unter seinem Originalnamen – noch immer im Angebot: https://www.bullspress.de/produkter-tjanster/produkter-tjanster/tiger/

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Eine Antwort zu Charlie Browns verschollene Nachbarskinder

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