Die Wahrheit von hinten

betr.: Monolog von Jean Cocteau

Jean Cocteau gehört zu den Universalgenies des 20. Jahrhunderts. Aus klassischen Anfängen heraus entwickelte er sich zum Kubisten, Futuristen, Dadaisten und Surrealisten, betätigte sich auf den Gebieten des Balletts, der Literatur, des Films und Theaters, war Maler, Designer, Bildhauer und ein auch heute noch gern reproduzierter Zeichner. Er war Mitautor eines Ballett-Librettos für Diaghilew und Nijinski, Librettist für Erik Satie und Darius Milhaud. Zu seinen Dramen zählen so wohlbekannte Titel wie „Die schrecklichen Eltern“ und „Die geliebte Stimme“. Sein junger Liebhaber Jean Marais wurde anfangs noch als talentlos verspottet, stieg aber mit Cocteau als Autor und Regisseur in den Filmen „Die Schöne und das Biest“ und „Orpheus“ zum langlebigen europäischen Filmstar auf.
Jean Cocteau starb 74jährig am selben Tag wie Edith Piaf: am 11.10.1963.

Aus Cocteaus „Taschentheater“ stammt der folgende Monolog.
Im Grunde bin ich ein Fan alter (mitunter veralteter) Übersetzungen, weil sie schon zeitlich eine größere Nähe zum Original haben als eine Neuübersetzung. Natürlich stoße ich immer mal auf Ausnahmen von dieser Regel, gehe dann manchmal selber an die Arbeit – und bin Jahre später mitunter erschüttert, was ich da getrieben habe.
Schwamm drüber! Auf ein Neues!

Jean Cocteau
Der Lügner

Ich lüge nie!
Ich bin jemand, der immer die Wahrheit sagt. Ist gar nichts Besonderes – ich liebe die Wahrheit. Aber sie liebt mich leider nicht. Das ist das einzige, was mich wirklich an mir stört: Mich liebt die Wahrheit nicht!

Kaum habe ich sie gesagt, da verformt sie sich und will nichts mehr von mir wissen. Ich stehe wie ein Lügner da, und alle kucken mich schief an. Und trotzdem! Ich bin ein ehrlicher Mensch, und Lügen finde ich ab-so-lut unmöglich!
Indiskutabel!
Ehrenwort!
Mit der Lüge hat man doch nur Scherereien! Man verwickelt sich in Widersprüche und fällt auf die Nase! Eine Mordsgaudi für alle Beteiligten!
Wenn man mich irgendwas fragt, will ich sagen, was ich denke … also die Wahrheit. Die Wahrheit ist doch einfach sexy.

Aber dann gibt es diese Tage, da ist es wie verhext. Ich frage mich, ob es nicht vielleicht gerade jetzt ausnahmsweise klüger sein könnte, der Wahrheit … ein bißchen nachzuhelfen. Nur ein kleines bißchen. Und, schwupps, ist mir irgendwas rausgerutscht, was überhaupt nicht stimmt!
Und dann ist alles im Eimer.
Ich bin auf die dunkle Seite gewechselt!
Und das Unheil nimmt seinen Lauf.
Das ist wie in diesem Sketch, wo Loriot versucht, das schiefe Bild wieder gerade zu machen, und alles wird immer schlimmer! Dann kniet er vor dem Regal mit diesen Tellern … einer davon ist umgefallen, und er stellt ihn ganz ordentlich wieder hin. Und dann: Rumpeldipumpel!
Das ist die Tragödie meines Lebens! Das ist die Grube, in der ich sitze!
Und es ist kein Vergnügen, ich kann euch sagen …
Was war das für eine schöne Zeit, als ich noch ehrlich war!
Die Wahrheit sagen kann jeder, das ist kinderleicht. Das ist die reine Sesselpfurzerei! Man braucht kein gutes Gedächtnis zu haben, man kann sicher sein, dass hinterher alles zusammenpasst. Zuerst, also gleich … sofort … kann es schon ein bißchen unangenehm sein, doch dann löst sich alles in Wohlgefallen auf.

Die Lüge hingegen ist ein Absturz, und nicht mal ein senkrechter. Sie ist eine Achterbahnfahrt, auf der man runtersaust, dass es einem die Nase verstopft, dann wieder hoch, dass sich einem die Haarwurzeln ins Hirn bohren, ein ewiges Hin und Her.
Aber was tun? Ändern tut man sich doch in unserem Alter sowieso nicht mehr! Es hat doch gar keinen Zweck, sich immer und immer wieder – bis in die frühen Morgenstunden – mit dem guten Vorsatz selbst zu verarschen: Du wirst nicht mehr lügen. Von jetzt an: Fakten, Fakten, Fakten!
Ich lüge, ich lüge, ich lüge – ganz egal, ob es sich um kleine oder große Dinge handelt. Und wenn ich doch mal wieder die Wahrheit sage – zwischendurch, aus Versehen, zu meinem eigenen Schreck – dann dreht sich die Wahrheit um, kuckt mich an, wird auf einmal ganz schrumpelig, schneidet Fratzen, lacht mich aus und wird Lüge.
Ist vielleicht besser so … Jemandem, den man liebt zu sagen, dass man ihn liebt? Das würde ich niemandem raten!

Nicht, dass ich für die Wahrheit zu doof wäre! Ich weiß schon immer ganz genau, … was ich dem anderen jetzt ins Gesicht sagen müßte! Und das würde ich auch jederzeit gerne tun! Aber im entscheidenden Moment … wird meine Zunge ganz taub … und geschwollen, und dann … aber innerlich platze ich vor Wut und ehrlicher Entrüstung! Ich schwör’s!
An meinem Charakter liegt es übrigens auch nicht! Tief in meinem Innern … hat mein Kern … ein richtig gutes Herz. Aber wenn man mich wie einen Lügner behandelt, dann komm ich richtig übel drauf!
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie schrecklich es ist, wenn keiner mitkriegt, daß man eigentlich total ehrlich ist?
Schluß jetzt! Das muß aufhören!
Ich habe mich ja schon geändert. Ich stehe kurz vor dem Durchbruch zu einer Methode, ein für allemal damit aufzuhören – um dieses ganze Elend nicht mehr ertragen zu müssen. Es ist wie ein zugemülltes Zimmer, wie eine Bärenfalle in finsterer Nacht, wie die endlosen Geheimtreppen einer unterirdischen Chinesenstadt.
Ich werde die Lüge bezwingen! Ich werde mich ihr entwinden, und hier und heute will ich Zeugnis ablegen!
Jawohl! Ich werde ein Zeichen setzen! Seht, wie ich euch ein Beispiel gebe!
Hier, vor aller Öffentlichkeit, klage ich mich an und breite meine Verfehlungen vor euch aus. Und glaubt nicht, daß es Spaß macht, derartig die Hosen runterzulassen!
Und dass ich mir auf meine Aufrichtigkeit Wunder weiß was einbilde!
Iwo! Lieber würde ich auf einem Bein nach Canossa hüpfen, als mich hier zum … äh …
Aaaber … Moment mal!

Wie sieht es denn bei euch selber aus?
Wie haltet ihr es mit der Wahrheit? Seid ihr denn eigentlich würdig, mich anzuhören?
Da sinke ich hier oben zur Laus herab … und habe noch gar nicht überprüft, ob der Gerichtshof überhaupt die nötige Fallhöhe hat, mich zur Minna zu machen.
Am Ende lügt ihr euch selbst den ganzen Tag und einander kreuzweise die Hucke voll – und findet das vollkommen in Ordnung. Und merkt es noch nicht mal.
Oder habt jedesmal eine tolle Ausrede.
Also … wenn ich mir euch mal so ansehe … etwas näher ansehe: eine einzige Rotte von Aufschneidern, Hochstaplern, Schwindelmeiern, Flunkerheimern und Mogelvögeln! Es steht euch ins Gesicht geschrieben!
Ich meine,
ich geb’s ja wenigstens zu – aber ihr? Ihr hockt da auf euren selbstgefälligen Hinterteilen, weidet euch daran, wie ich hier zu Kreuze krieche, und denkt euch: naja, selber schuld …
Ihr seid erkannt!
Wißt ihr eigentlich, verehrte Damen, liebe Herren, weshalb ich euch erzählt habe, daß ich lüge?
Es war nämlich nur ein Trick! Ich habe euch eine Falle gestellt, jawohl!
Ich käme gar nicht auf die Idee, zu lügen – ist doch viel zu anstrengend und kompliziert. Da hab ich doch gar keine Lust drauf!
Ich habe vorhin nur gelogen- als ich sagte, ich löge -, um euch dazu zu bringen, dass ihr euch mal selber anschaut! Und nun sehe ich, wie sich eure Visagen unbehaglich verformen. Und am liebsten würdet ihr euch jetzt rausschleichen … euch unsichtbar machen – und ihr hofft, dass das hier nicht eine von diesen Veranstaltungen ist, wo man auf die Bühne geholt wird und mitspielen muß … gräßlich sowas …
Sie da (meine Dame)! Sie haben ihrem Freund gesagt, das Wort Ulli in den ganzen Kurznachrichten, die Sie dauernd schreiben, stünde für Ulrike und meinte eine liebe Schulfreundin!
Sie lügen doch wie gedruckt!
Mein Herr, Sie haben Ihrer Frau gesagt, ihre neue Frisur wäre sagenhaft und würde sie 15 Jahre jünger machen.
Da lachen ja die Hühner!
Wer leugnet?-Niemand?-Gut!

Ich hab es mir doch gleich gedacht!
Wo bin ich hier nur gelandet?
Es ist ein Abgrund!
Und außerdem – ich lüge doch nur, um der Mitwelt einen Dienst zu erweisen … damit es keinen Knatsch gibt … damit es hinterher nicht wieder heißt ..!
Ja, so bin ich! Ich lade die eingangs schon geschilderten Widrigkeiten auf mich, um zum sozialen Frieden beizutragen!
Und wird mir das gedankt?
Ü
berhauptnicht!
Ach, ich könnte euch Geschichten erzählen, aber … die glaubt mir ja sowieso kein Mensch!

Übersetzt und bearbeitet von Monty Arnold´

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