Der Mythos vom Archivbrand

betr.: vollständiges Niederbrennen des Teatro La Fenice in Venedig vor 19 Jahren

Wir leben in den Zeiten der alltäglichen Vernichtung großer Sammlungen, denn häufig findet sich niemand, der Zeit und Lust hat, Altes zu digitalisieren oder auch nur zu sichten und zu ordnen. Aber das Phänomen hat Tradition: „Kassation“* nennen die Bewohner von Funkhäusern die Schaffung neuen Platzes im Archiv durch Wegschmeißen. In den nicht weit zurückliegenden vordigitalen Zeiten hatte jedes gut funktionierende (also stetig wachsende) Archiv früher oder später ein Platzproblem. Das war schon deshalb so, weil man es seinerzeit eben nicht mit Datensätzen oder flachen Scheiben zu tun hatte, sondern mit Filmdosen, MAZ-Kassettenboxen, Aktenordnern und Tonbändern, die pro Sekunde 38 cm brauchten. Außerdem war das wiederbespielbare Tonband ein teurer Rohstoff.
Gelegentlich musste die zuständige Redaktion sich also entscheiden, was für den Kern des Programmauftrags entbehrlich war. Hier galt die Regel: am ehesten Regionales und Unterhaltung. Irgendwo in einem Flur stand ein kühlschrankgroßes Gerät, das mit einem lauten Wumms die Bänder entmagnetisierte. Wie zum Hohn wurden die Karteikarten und Bandpässe im Archiv weiterhin aufbewahrt, auf denen etwa die Besetzung verlorener Hörspiele festgehalten war.

Hin und wieder sprang auch schon mal etwas Zeitgeschichte über die Klinge; die seit Ende der 80er Jahre täglich laufende Sendereihe „Die Tagesschau vor 25 Jahren“ war zunächst nur möglich, weil sich in der Klebewerkstatt der DDR-Störsendung „Der schwarze Kanal“ unerlaubte Mitschnitte der wichtigsten westdeutschen Nachrichtensendung zum Zwecke der Ausschlachtung erhalten hatten.

Der „Tagesschau“-Muttersender NDR gilt der fachfernen Öffentlichkeit als besonders gefräßiger Verbrennungsofen für historische Fernsehschätze – was auch daran liegt, dass er zu den ältesten und verdienstvollsten ARD-Anstalten gehört und somit viel im Schrank hatte, dessen Verlust einem wehtun kann. Weiterhin ist dafür Harald Vock verantwortlich, mit dessen Namen sich der bekannteste mediale Ikonoklasmus der Bundesrepublik verbindet. Da Vock den Moderator Chris Howland privat nicht ausstehen konnte (was so weit sein gutes Recht war), rächte er sich an diesem und der übrigen Bevölkerung, indem er fast sämtliche Folgen der TV-Sendereihe „Musik aus Studio B“ vernichten ließ. Gehässierweise ließ er die 51. Folge als einzige übrig, die immer mal wieder unter der laufenden Nr. 50 im Fernsehen gezeigt wird: eine groteske Selbstparodie des beliebten Formats in Verbindung mit dem Karnevalsgedanken – Chris Howland zum Fürchten.

Es wurde aber nicht nur aus persönlicher Gehässigkeit und aus Platzgründen kassatiert sondern auch aus einem Fehlen historischen Bewusstseins und aus schierem Bürokratismus heraus.
In den frühen Verträgen, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit Autoren und Komponisten abschloss, gab es noch Klauseln, die die Vernichtung des Auftragsgegenstandes nach Ablauf einer bestimmten Frist regelten. So hat der große György Ligeti († 2006) noch erleben müssen, dass ihn der (ich glaube, es war der Bayerische) Rundfunk anschrieb, um ihm sinngemäß mitzuteilen, „am soundsovielten wird Ihre Originalpartitur den Flammen übergeben“. Solches war auch durch einen Ankauf der Materialien durch den Schöpfer nicht zu verhindern – es stand schließlich im Vertrag.** Der Komiker John Cleese bezeichnet solches Vorgehen in seiner Biographie als „Akt des Vandalismus, der für mich dem Brandschatzen der Bibliothek von Alexandria gleichkommt“ (- auch im Fernseharchiv der BBC wurde schrecklich gewütet).

Auch Hörspiele sind wie gesagt aus diesem Grunde absichtlich vernichtet worden. So etwas ist dem Gebührenzahler natürlich nicht begreiflich zu machen und dem Sender im Nachhinein oftmals peinlich. Auf Nachfrage wird sich dann häufig ahnungslos gegeben oder auf Archivbrände herausgeredet, die das Material vernichtet hätten. Ebenso wie die vielen Hunde, die angeblich Hausaufgaben zu sich genommen haben, sind die meisten dieser Feuersbrünste reine Erfindung – und das ist ja genaugenommen eine gute Nachricht.

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* von lateinisch cassare „vernichten, kaputt/ungültig machen“, die Antwort auf die Frage: Was ist für den Kern des Programmauftrages entbehrlich?
** Wer die große archivarische Verantwortung ausloten möchte, die einer Sendeanstalt zwangläufig zufällt, dem sei die DVD „Music In The Air – A History of Classical Music on Television“ ans Herz gelegt
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5 Antworten zu Der Mythos vom Archivbrand

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