Die Wonnen der ersten Lesung

betr.: 114. Geburtstag von Erich Fiedler*

Dieser kleine Aufsatz aus der verschwiegenen Welt der Mischpulte und Mikrofone basiert auf meinem Seminar „Einführung ins Mikrofonsprechen“. Fachleuten wird er wenig Neues zu erzählen haben. 

Das erstmalige und trotzdem fließende Lesen eines Textes (prima vista) ist gleichzeitig die Basis- und die Königsdisziplin der Sprecher und Schauspieler. Wer einen unbekannten Text fehlerfrei vorliest, hat ihn vollständig erfasst, d.h. er / sie hat nicht nur die Bedeutung der einzelnen Wörter begriffen, sondern auch die jedes Satzes, und zwar im vorliegenden Zusammenhang. Das hört sich banal und selbstverständlich an – es ist alles andere als das.
(US-Präsident Ronald Reagan stand in dem Ruf, der beste „cold reader“ Washingtons zu sein.)

Die Off-Sprache – also der Vortag eines erzählenden Fließtextes – ist das Schwerste, was ein Sprecher zu tun haben kann, schon deshalb, weil es diese Textgattung in ihrer reinen Form im zwischenmenschlichen Alltag nicht gibt. Dort herrscht der Dialog vor (- sogar Selbstgespräche werden üblicherweise im Dialog-Stil geführt). Den Off-Text kennen wir global vernetzten Medienbürger natürlich auch, aber in der Regel eben nur als Zuhörer.
Wie ist es möglich, einen Text korrekt vorzulesen, von dessen Zeilen und Sätzen man das Ende noch nicht kennt, wenn man sie auszusprechen beginnt?

Wer gut vorliest, erkennt schon frühzeitig, mit welcher Art von Satz er es zu tun hat – es gibt nur ein paar Arten, die sich stetig abwechseln und wiederholen. Um diesen Eindruck rechtzeitig zu erlangen, muss das Auge weiter sein als der Mund.
Das Vorlesen eines Fließtextes ist vergleichbar mit einer Radfahrt in völliger Dunkelheit, bei der die Fahrradleuchte die einzige Lichtquelle ist.
Der Blick des Radlers ist immer auf den äußersten Rand des sich schräg vor ihm ausbreitenden Lichtkegels geheftet, der sich parallel mit ihm zusammen bewegt und seine Größe nicht verändert. Wenn der Radfahrer mit seiner Lenkstange die Stelle erreicht, die er zuletzt betrachtet hat, ist er mit den Augen schon wieder ein Stück weiter, und nur dieser Stelle gilt seine Aufmerksamkeit. Sieht er ein Hindernis oder macht der Weg eine Kurve, kann der Radfahrer darauf rechtzeitig reagieren. Auf das Lenken und In-die-Pedale-Treten muß er sich nicht konzentrieren. Es ist ein unbewußter Vorgang, der sich aus dem bewußten Teil der Sache von selbst ergibt.

Radfahrer Col

So muß der Blick beim Vorlesen der Stimme immer ein Stück voraus sein. Der geübte Mund ist weitgehend sich selbst überlassen. Spricht er den Anfang eines Textes aus, haben sich die Augen schon etwa anderthalb Zeilen weiter vorgearbeitet. Der Text ist dann bereits durch den Lesenden hindurchgegangen.

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* In einem Zeitungsartikel sagte einst ein Berliner Synchronschaffender, es werde angestrebt, 85% der Qualität des Originals zu erreichen, aber das sei schon sehr hoch gegriffen. Erich Fiedler war zu einer Zeit in dieser Branche tätig, in der die Originalfassung – zumindest für unsere deutschen Ohren (und um die geht es ja hier) – oftmals sogar enttäuschte, wenn man die deutsche zuerst gehört hatte. Als Stammsprecher des famosen britischen Komödianten Robert Morley holte er aus dessen Leistungen immer noch etwas mehr heraus, vergleichbar mit Walter Bluhm, der deutschen Stimme von Stan Laurel. Fiedler spricht außerdem z.B. den Türknauf in Walt Disneys Trickfilm „Alice im Wunderland“ und den Vampirgrafen Krolock in „Tanz der Vampire“.

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