Der Song des Tages (8): „Je ne pourai jamais vivre sans toi”

betr.: 53. Jahrestag der Beendigung des Algerienkrieges

Als das Genre vor 30 Jahren wieder zu neuem Leben erwachte, war das Musical zunächst um die Evokation von Tragik und Gewicht bemüht. Musikalisch mehr denn je der Tugend des Eskapismus verpflichtet, sollte der hohe Anspruch zumindest im Thema angedeutet sein. Werke wie „Miss Saigon“, „Les Misérables“ oder „Phantom der Oper“ wärmen sich ausdrücklich an der Nähe zur Weltgeschichte bzw. Weltliteratur. Sogar Disney wagte sich mit dem „Glöckner von Notre Dame“ an ein (ursprünglich) zutiefst unerfreuliches aber hochklassisches Sujet.
Die Autoren dieser Arbeiten verwiesen auf Nachfrage gern auf Bernsteins „West Side Story“, bekanntlich die geglückte Übertragung eines Shakespeare-Dramas auf die Musical-Bühne und seinerseits ein wärmender – moderner – Klassiker.
Zeitlich irgendwo zwischen Bernstein und den neuen Tiefbrettbohrern liegt ein Musical, das inzwischen ein recht populärer Geheimtipp ist, und doch kommt man nicht immer gleich drauf: Michel Legrands „Die Regenschirme von Cherbourg“ aus dem Jahre 1963.

Es bietet manchen Griff zum Festhalten: die erste Filmrolle für Catherine Deneuve zum Beispiel, die hier sogleich auch noch singen muß. Den einmalig geglückten Fall einer vollkommen durchkomponierten Liebesgeschichte, deren Darsteller so natürlich agieren, dass man – beim Drücken der Stummschaltetaste – meist gar nicht bemerkt, dass hier unentwegt gesungen wird. Das hemmungslose Baden im Kitsch – soweit es die farbenfroh bemalten Dekorationen betrifft – und das gleichzeitige Vermeiden desselben in bezug auf die zutiefst gescheite Handlung – die ich hier leider nicht preisen kann, ohne das Ende zu verraten, das in seiner gnadenlosen Beiläufigkeit eine Rarität darstellt unter den Schlußsequenzen der Musicalgeschichte (- vergleichbar allenfalls mit dem emotionalen Decrescendo im Finale von „Kismet“, in dem wir vom Vater der Braut sogleich auf die Vergänglichkeit des jungen Glücks hingewiesen werden: „Princes come, princes go …“).

Auch die „Regenschirme“ haben (siehe oben) einen bewegten historischen Hintergrund: den Algerienkrieg. Wie so viele seiner Landsleute muß der junge Franzose Guy seine Geliebte zurücklassen, was mit einem Liebesduett betrauert (und mit einem farblich genau zu Möbeln und Klamotten passenden Pernod begossen) wird. – So weit, so konventionell.
Aber was für ein Duett das ist!
„Les parapluies de Cherbourg“ wartet im Wesentlichen mit zwei großen musikalischen Themen und überbrückenden Rezitativen auf. Das wichtigere der beiden* (sozusagen die Générique) erklingt nun zum Abschied. Es wird im Tracklisting unter „Duo de Guy et Geneviève“ geführt und würde qua Titelzeile „Ne me quitte pas“ heißen, wäre dieser Titel nicht schon wenige Jahre zuvor von Jacques Brel verbraucht worden. So heißt es nun mit bürgerlichem Namen
Je ne pourai jamais vivre sans toi”. Trotz dieser sperrigen Überschrift machte der Song – als Solofassung – eine Weltkarriere und wurde mit einem englischen Text von Norman Gimbel (“I Will Wait For You”) zu einem dieser “großen Filmhits”, die immer wieder gerne auf Hollywood-Alben und in Personality-Shows gesungen werden.**
Welche Version sollte man nun nach der Lektüre dieses Artikels heraussuchen? Egal – das Stück ist sogar instrumental eine Suche im Internet wert. Oder einen Gang zum Plattenspieler.
Viel Vergnügen!

 

* Das zweite Motiv erhielt auch einen englischen Text und erklingt von Zeit zu Zeit: “Watch What Happens”.
** Die Originaltexte schrieb Jacques Demy, der Regisseur und Visionär des Films.

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