Wie man richtig untergeht

betr.: 73. Todestag von Robert Musil

New York galt Mitte des 20. Jahrhunderts als „Rom der Moderne“. Dies war die Verneigung vor einem gewaltigen ethnischen Schmelztiegel, von dem – vor allem auf musikalischem Gebiet – eine Vielzahl von kulturellen Impulsen ausging.
Aus den gleichen Gründen hätte auch Wien diese Bezeichung verdient, etwa ein halbes Jahrhundert zuvor: im nicht weniger problematischen gesellschaftlichen Klima der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie – Arthur Schnitzler hat sie besonders eindrucksvoll beschrieben.
Drei Autoren haben das Ende dieser Ära, den Untergang des habsburgischen Mythos, für uns in Weltliteratur umgesetzt:
Joseph Roth, Heimito von Doderer und Robert Musil. Von Letzterem stammt auch der Spitzname für dieses versinkende Reich: Kakanien, abgeleitet von „k. u. k. Monarchie“ (sprich: „Ka-und-Ka-Monarchie“). Das erste K (kaiserlich) steht für den Titel „Kaiser von Österreich“, das zweite (königlich) für den Titel „Apostolischer König von Ungarn des Monarchen aus dem Hause Habsburg-Lothringen“.
Die Hauptwerke dieser drei Autoren bilden einen Kanon der Untergangsliteratur.

Robert Musil gilt als Mitbegründer der literarischen Moderne. Sein unvollendet gebliebener Mann ohne Eigenschaften erzählt von dem Vorhaben, Kaiser Franz-Joseph im Jahr 1918 ein angemessenes 70jähriges Thronjubiläum auszurichten, besonders nachdem man sich ausgerechnet hat, dass die preußischen Nachbarn im nämlichen Jahr das vergleichsweise popelige 30. ihres Kaisers Wilhelm begehen möchten. An der besonderen Qualität dieses Jubiläumsjahres werden die Herren von der Festkommission wenig Anteil haben – ein hochironisches Werk, wie schon an dieser kurzen Einführung deutlich wird.

Heimito von Doderers 900seiteiger Roman „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ spielt in der titelgebenden Treppenanlage im IX. Wiener Bezirk, dem Dreh- und Angelpunkt von Intrigen und Verstrickungen. In Rückblenden (vor allem in die Jahre 1910 und ’11) begegnen sich die leichtfüßige Editha Schlinger und ihr betrogener Geliebter René Stangeler, der kleinbürgerliche Amtsrat Melzer und der deutsche Bonvivant Rittmeister von Eulenfeld. Sie und die übrigen Figuren – sie wimmeln durch zahllose Erzählstränge – erleben den historischen Bruch des Ersten Weltkriegs auf unterschiedliche Weise.

Besonders viele Leser hat noch heute der „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth. Drei Generationen begleiten uns hinüber in das 20. Jahrhundert. Der erste Trotta rettet dem Kaiser Franz Joseph das Leben und wird dafür geadelt. Der zweite Trotta wird streng erzogen, kommt aber mit seinem Leben nicht zurecht. Der dritte Trotta verfällt der Zockerei, dem Fusel und den sprichwörtlichen billigen Weibern. Er stirbt im Ersten Weltkrieg zu den Klängen des „Radetzkymarschs“ von Johann Strauß d.Ä., der Musik, zu der es sich so herrlich für den Kaiser sterben lässt.
Beim Studium dieser Verhältnisse, die mit unserem Alltag nichts mehr gemein zu haben scheinen, fühle ich mich immer wieder genau beobachtet – und bin gleich danach unendlich erleichtert, dass es eben nur ein Gefühl ist.

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