Das Märchen vom Individualismus

betr.: 187. Geburtstag von Hippolyte Taine

Um die Jahrhundertwende hielt der Naturalismus Einzug in die Kultur. Die Kunst – bisher bestrebt, dem Menschen bei seiner ewigen Suche nach Schönheit behilflich zu sein und ihn über seine unvermeidlichen Fehlschläge hinwegzutrösten – erlaubte (erzwang) nun auch einen Blick in den Abgrund.
Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte in den schönen Künsten eine Abkehr vom verklärten Helden eingesetzt, und auch die Darstellung von unerfüllter Liebe und innerer Zerrissenheit verlor ihren romantischen Anstrich. Die moderne Gesellschaft offenbarte sich dem Leser nun in ihrer ganzen Jämmerlichkeit. Die Rohheit, die Hässlichkeit der industriellen Revolution fand ihren Platz im literarischen Kunstwerk (die Oper sollte später folgen).

Es war der Historiker und Philosoph Hippolyte Taine, der dieser Verlegenheit noch einen sachlichen aber verschärfenden Aspekt hinzufügte: er warb für die Theorie, dass der gebildete, zivilisierte Mensch – allem selbstattestierten Individualismus zum Trotz – fremdbestimmt ist. Er bleibt in seinem Schicksal, seiner persönlichen Entwicklung unbestechlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die vor allem durch drei Faktoren bestimmt werden: race, milieu et moment (siehe weiter unten).
Eine Biografie – das, was die Griechen, die Römer und die Klassiker der Neuzeit noch als Schicksal bezeichnet hatten – reduzierte sich nun auf ein Fallbeispiel, das berechenbare Ergebnis einer Versuchsanordnung.

Der Autor Emile Zola setzte diesen Blickwinkel in Literatur um und schrieb damit Geschichte. Als Vorbild für seinen Romanzyklus „Die Rougon-Macquart“, den er als großes Gesellschaftspanorama anlegte, diente ihm Honoré de Balzacs „Comédie Humaine“. Zolas Helden sind, ganz im Sinne der jungen Soziologie, ihren drei Determinanten ausgeliefert: ihrer Stellung in der Gesellschaft („milieu“), ihrer biologischen Verfaßtheit („race“) und dem geschichtlichen Verlauf, der von ihnen angetroffen wird („moment“).

Zur Zeit wird, beflügelt von dem Flüchtlingsproblem, dem sich der nördliche Mittelmeerraum gegenübersieht, immer wieder darüber diskutiert, wie schwer es für die „Jugend von heute“ ist, sich über einen schlechten Start ins Leben (eine unzureichende Bildung, ein sozial schlechtgestelltes Elternhaus) später einmal hinwegzusetzen.
Es wird Zeit, wieder Zola zu lesen – und Hippolyte Taine.

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