Die wiedergefundene Textstelle (21): Der Pfandleiher-Monolog

betr.: 75. Jahrestag der Inbetriebnahme des Konzentrationslagers Auschwitz / Texte für SchauspielerInnen

Die in dieser Reihe präsentierten Texte sind kleine Schauspiel- bzw. Vorsprechmonologe, die von der (pädagogischen) Fachwelt übersehen / abgelehnt werden, weil sie nicht aus den üblichen Quellen stammen. Sie teilen sich nach meiner Einschätzung auch ohne die hier gelieferte Hinführung auf die eine oder andere Weise mit.

Im Drama „Der Pfandleiher“ („The Pawnbroker“), das Sidney Lumet 1964 mit Rod Steiger in der Titelrolle verfilmte, ist die Lösung eines uralten Rätsels versteckt. Der Film gilt als Kostbarkeit, ist aber längst aus dem Blickfeld des Publikums verschwunden – und mit ihm auch der unten wiedergegebene Text.
„Der Pfandleiher“ basiert auf dem Roman von Edward Lewis Wallant und schildert das Leben eines zutiefst traumatisierten Holocaust-Überlebenden in Harlem, der bei der Kundschaft für seine herzlosen Geschäftskonditionen gefürchtet ist und sich persönlich jeder Form menschlicher Zuneigung verweigert. Einen gewissen Zugang zu ihm findet immerhin sein strebsamer puertoricanischer Lehrling Jesus Ortiz, den er im Grunde verachtet, aber dessen Wissbegierde ihm schmeichelt.
Eines Tages geschieht das Unvermeidliche: Jesus fragt seinen Meister, wie „dessen Volk“ es immer wieder schafft, so geschäftstüchtig zu sein („How Come You People?“). Nazermann ist verletzt, was man im Laufe seiner Erwiderung auch zunehmend an seinem Tonfall merkt, aber er beantwortet die Frage sehr einleuchtend und erschöpflich. (In der deutschen Fassung wird die Rolle von einem anderen Schauspiel-Giganten übernommen: Paul Edwin Roth.)

Heute abend zeig‘ ich dir, wie du Geld sparst. Vorher wirst du sicher wissen wollen, wie man es verdient.
Du denkst, es gäbe da ein Geheimnis, ein Rezept, dass man lediglich befolgen müßte, und schon würde sich der Reichtum von ganz allein einstellen. Und du denkst, mein Volk wüßte dieses Rezept.
Ich verstehe, ich verstehe …
Na gut, ich will dir’s sagen.
Zunächst beginnst du mit einer Periode von einigen tausend Jahren, in der du nichts hast, nichts anderes hast, als eine Legende mit einem langen Bart.
Nichts, mein Freund – kein Land, das dir gehört, das du bebauen kannst, keinen Jagdgrund, du besitzt nichts!
Du bist nie lange genug an einem Ort, um geografisch zu existieren, um eine Armee aufzubauen. Du hast nichts als dein bißchen Gehirn!
Ein kleines bißchen Gehirn und eine lange, bärtige Legende, um dir einzureden, dass du etwas … etwas Besonderes bist – sogar im schlimmsten Elend.
Aber dieses kleine bißchen Gehirn – das ist der eigentliche Schlüssel, nach dem du suchst.
Siehst du, mit diesem bißchen Gehirn gehst du hinaus und kaufst einen Ballen Stoff, und du schneidest den Ballen entzwei und verkaufst ihn für einen Penny mehr als du dafür gezahlt hast. Dann kaufst du einen neuen, noch größeren Ballen und teilst ihn in drei Stücke und hast drei Penny Profit.
Aber, mein Freund, in dieser ganzen Zeit darfst du nicht einmal schwach werden und ein Stück Brot kaufen für deinen Tisch oder ein Spielzeug für dein Kind – o nein!
O nein!
Du mußt sofort hinausrennen und noch einen größeren Ballen besorgen und diesen Fortgang wiederholen, immer und immer wieder!
Bis du plötzlich etwas Eigenartiges bemerkst: du hast jetzt gar kein Interesse mehr, in der Erde zu graben und sie fruchtbar zu machen oder über ein weites Stück Land zu schauen und zu sagen: das gehört mir!
O nein, nein! Es geht so weiter und weiter, dieser Vorgang wird durch die Jahrtausende wiederholt, wieder und immer wieder wiederholt, bis du entdeckst: dein Erbe ist kein bloßer Besitz sondern der Handel! Die Gier! Du bist ein Geschäftsgenie!
Du bist bekannt als Wucherer, als schmutziger Geldverleiher, als Betrüger, als Hexer, als Trödler, als Pfandleiher, als Jidd!

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Eine Antwort zu Die wiedergefundene Textstelle (21): Der Pfandleiher-Monolog

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