Mindestens ein bißchen schwerelos

betr.: 116. Todestag von Johann Strauss (d. J.)

Musik hat es heutzutage schwer, ein großes Publikum zu erobern, ohne an andere Sinnesreize gekoppelt zu sein. Es gibt aber ein Mittel, das seine Wirkung selten verfehlt und diese Gesetzmäßigkeit zu durchbrechen in der Lage ist: der Dreivierteltakt.

Der Tanz dazu, der Walzer, gilt uns heute als oll und überholt, ein Rentner-Rhythmus, mit dem ein Genre verbunden ist, das wie kein anderes Muff und Spießigkeit verkörpert: die Operette.
Das ist so natürlich alles nicht richtig.
Der Dreivierteltakt funktioniert (noch) immer – jenseits aller Geschmacks-, Genre und Altersgrenzen! Ehrlich!
Das wurde mir so richtig bewußt, als ich zum ersten Mal Joe Cockers Version von „With A Little Help From My Friends“ hörte. Insgesamt war sie mir ein wenig zu haarig und zu wüst, aber ich konnte mich ihr nicht entziehen.
Woran lag`s?
Natürlich daran, dass Cocker (das alte Schlitzohr) „With A Little Help From My Friends“ mir und uns allen im Walzertakt untergejubelt hatte.
Der famose Noel-Coward-Song „Mad About The Boy“ wurde vollends zum Geniestreich, als ihn Dinah Washington (angeleitet von Quincy Jones) „in three-quarter-time“ sang.
Stephen Sondheim komponierte ein komplettes Musical im Walzertakt („Das wollte ich schon immer mal machen!“ erklärte er dazu) und schuf auf diese Weise prompt seinen allergrößten Song: „Send In The Clowns“.

Richard Wagner bevorzugte die geraden Taktarten. Eduard Hanslick wird das Bonmot zugeschrieben, Wagner sei zwar ein brillanter Harmoniker, leider aber ein lausiger Rhythmiker gewesen. Allein in der „Fledermaus“ befänden sich mehr Rhythmen als in Wagners Gesamtwerk. Deshalb schläft es sich auch so gut in Wagner-Opern.

Das ist der Moment des heutigen Beitrags, an dem ich darauf hinweisen möchte, dass der Walzer und der offiziell coolste aller Gesellschaftstänze, der Rock’n’Roll, viel gemein haben.
Sie markieren (wie auch der Charleston) eine gesellschaftliche Bruchstelle und waren für das jeweilige Establishment ein handfester Skandal. Die alte Weisheit, dass alle Kunst von wirklicher Wichtigkeit zu einem Zerwürfnis zischen Jung und Alt beiträgt, gilt auch hier: vor 500 Jahren war es un-er-hört, dass Tanzende sich berührten, einander gar in den Armen lagen. Der Walzer machte es möglich. Wie sich das gehört, wurde er für lange Zeit geächtet, verboten und umso freudiger getanzt.

Man braucht aber nicht ganz so tief ins Archiv zu steigen, um diesem Faszinosum nachzuspüren: der Wechsel eines betonten mit zwei unbetonten Schlägen hat etwas Beschwipstes. Auch der nüchterne Mensch, sogar der notorische Tanzmuffel (vor allem Zweiteres trifft auf mich zu!) fühlt eine leichte Bewusstseinserweiterung, einen kleinen Rausch dabei.
Was ich als Nicht-Instrumentalist nie gedacht hätte: gerade dieser Rhythmus, der wie kein anderer für größtmögliche Leichtigkeit steht, ist wohl gar nicht so einfach herzustellen wie er sich anhört.
Das komplexeste Walzerstück der populären Musik – der „Carousel Waltz“ – wurde nur ein einziges Mal befriedigend und wirklich mitreißend auf Tonträger gebannt: von Alfred Newman, dem „besten Dirigenten Hollywoods“*.
Der hochgeschätzte John Mauceri – den ich nicht zuletzt wegen des erlesenen Repertoire-Geschmacks achte, den er in seine Projekte (und Schallplattenproduktionen!) einfließen ließ – hat deutliche Schwächen, wenn es um den Walzer geht.
Und so manche junge Entertainerin bricht deswegen gar in Tränen aus.

Ich hatte einige Male die Freude, „Tryout“ (oder auch Liedinterpretation) unterrichten zu dürfen. Es ist dies ein Fach für Experimente, eine Werkstattsituation – köstlich!
Eine Studentin hatte den Evergreen „A Dream Is A Wish Your Heart Makes” mitgebracht.
Ich war entzückt.
Sie sang ihn einmal durch die Form, in einem behäbigen Marschtempo. Eine Ballade. Soweit so gut – so steht er ja auch in den Noten, die man beim Kaufmann bekommt.
Ich lauschte und bewunderte die junge Kollegin für den klugen Aufbau ihres Vortrags. Gleich würde sie – wie schon ihre Kollegin „Cinderella“ in dem gleichnamigen Trickfilmklassiker – in eine Wiederholung starten, dabei das Tempo anziehen und in den Walzerrrhythmus wechseln, freute ich mich.
Doch weit gefehlt.
Am Ende des ersten Refrains war Schluss. Ich tat meine Pflicht und kommentierte ihre Performance. Ich erzählte ihr von der Walzer-Reprise aus dem Film und schlug ihr vor, es doch „einfach“ mal so anzulegen und zu staunen, wieviel Fahrt die Nummer plötzlich aufnehmen würde. Michael Ashton am Piano stimmte zu: die Noten könne man auch „on the fly“ in dieser Weise umsetzen.
Die Interpretin wollte sich darauf so spontan leider nicht einlassen und brach in Tränen aus.
Dabei wäre es fantastisch geworden!

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* … soweit das Urteil des Musikerkollegen Bernard Herrmann, der mit Lob nicht eben freigiebig war.

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2 Antworten zu Mindestens ein bißchen schwerelos

  1. Lieber Monty,

    ein schöner Artikel. Den hat der 3/4 Takt schon lange verdient.
    🙂

    Viele Grüsse,
    Rasmus

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