1984 plus drei

betr.: 66. Geburtstag des Romans „1984“

Zwei historische Persönlichkeiten gibt es, mit denen ich mich besonders gerne einmal über den gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft – der zu einem erheblichen Teil von unserem Kommunikationsverhalten geprägt ist – unterhalten würde.
Beide sind sie zu einem Zeitpunkt verstorben, der ihren jeweiligen Weitblick über allen Zweifel erhebt. Marshall McLuhan verschied am Silvesterabend 1980, nachdem er sich mit seinen Thesen zur globalen Vernetzung und zur allzeitigen Erreichbarkeit des Individuums auch spöttische Reaktionen eingefangen hatte. Und George Orwell überlebte seine beiden wichtigsten Werke nur um wenige Jahre: „Animal Farm“ und „1984“, die sich beide mit der Abschaffung der Demokratie auseinandersetzen.
Als das Jahr 1984 anbrach, gruselten wir uns aus aktuellem Anlaß noch einmal über Orwells Hauptwerk, begleitet von einer etwas schwurbeligen Neuübersetzung und einer zweiten Hollywood-Verfilmung. Wir ließen uns jedoch versichern, vieles von dem, was der Autor hier schildere, sei inzwischen glücklicherweise in dieser Form unmöglich.
Das stimmte irgendwie und doch auch wieder nicht.
Die Volkszählung drei Jahre später erregte deutlichen Protest, und die Beteuerungen des Staates, die Fragebögen würden anonymisiert verarbeitet, wurden in Artikeln widerlegt. Für mich als Gezählten waren beide Behauptungen gleichermaßen unnachvollziehbar, aber ich fühlte mich ziemlich elend und gab insofern den Artikelschreibern recht.
Ich tröstete mich damit, dass ich ohnehin bald danach in eine andere Stadt umziehen würde und somit einen Großteil „meiner Daten“ entwertete.
Aus meiner heutigen Sicht war dies das letzte Mal, dass sich ein bemerkbarer Teil der Bevölkerung über Datenschnüffelei aufgeregt hatte.
Dass der von Orwell geprägte Begriff „Big Brother“ (ohne den Zusatz „is watching you“, der gar nicht mehr nötig ist) durch eine Containershow den einstweilig endgültigen Eingang in den Sprachgebrauch fand, ist bezeichnend: die Insassen hatten schließlich nichts dagegen, sich allzeit filmen zu lassen. Das war ja der Witz an der Sache. Und sie hatten noch keine Ahnung davon, wie es wenige Jahre später ihren Nachfolgern im Dschungel ergehen würde …

Nun möchte ich doch noch ein wenig im eingangs geschilderten Sinne fantasieren. Ich könnte mir vorstellen, dass sich die beiden Herren schon damals genauso gefühlt haben wie ich im Jahre 1987 … oder heute.
Wenn das zutrifft, dürfen wir zumindest von McLuhan annehmen, dass er das ziemlich komisch fand.

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