Die Erfindung des Entertainers°

betr.: 120. Geburtstag von Cliff Edwards („Ukulele Ike“)

Die Freischaltung der Popkultur

Als ich aufwuchs, hörte und las ich immer wieder den mit selbstverständlicher Beiläufigkeit gebrauchten Slogan von den „kulturlosen Amerikanern“. Das war kein plumper Antiamerikanismus; die USA hatten in den 70er Jahren hierzulande einen geradezu märchenhaften Ruf. Es war der Hinweis auf das Fehlen einer US-amerikanischen Antike und Renaissance, der sich ganz allmählich aus dem Sprachgebrauch verflüchtigte. Längst war schließlich Hollywood die Filmmetropole der Welt, und auch die Entwicklung eines zeitgenössischen amerikanischen Literatur- und Theaterlebens hatte sich in der Alten Welt herumgesprochen. Inzwischen haben mehrere aufeinanderfolgende Generationen ein viel engeres Verhältnis zur amerikanisch geprägten Popmusik als zu den Volksliedern, den Dichtern und Denkern unserer Heimat. Das Vorurteil ist überwunden – wenn auch der Blick auf die „guten Jungs“ aus Übersee sich insgesamt sehr eingetrübt hat.
Was bleibt, ist der ungeheure Beitrag der USA zum Kulturleben des 20. Jahrhunderts. Man könnte sagen, diese Nation aus lauter Ausländern hat der Welt die Popkultur en bloc zu Füßen gelegt.

Das begann, als sich in den 20er Jahren ein nie dagewesener ethnischer und kultureller Schmelztiegel bildete. Die Nachkommen der aus Afrika verschleppten Sklaven lebten in New York auf engstem Raum mit den zahlreich eintreffenden Einwanderern aus Russland und Europa zusammen, und jeder brachte seine Folklore mit. Das Fehlen einer unterhaltungselektronischen Ausstattung führte dazu, dass es praktisch in jeder Familie Musikinstrumente gab, die leidenschaftlich traktiert wurden.
Es war unausweichlich, dass alle einander zuhörten und sich wechselseitig beeinflussten. Es kam zu der Entstehung einer neuen Weltmusik.°

Die Tanzkapellen der Nachtclubs, vor allem aber das sich formierende amerikanische Musiktheater waren das Labor dieser Entwicklung – der Film war stumm, und das Radio steckte noch in den Kinderschuhen. Auf der Basis einer europäischen Vorlage – der Operette mit ihren leichtlebigen Sujets und dem bedingungslosen Ansatz, das Publikum zu unterhalten – entstand etwas, was in den 30er Jahren unter dem Begriff „Musical“ um die Welt gehen sollte.

Drei Völker, eine Idee

Drei Einwanderergruppen sind hier von besonderer Bedeutung: die Schwarzen, die Juden und die Iren.
Die 20er Jahre werden auch das Jazz-Age genannt, denn dieser neue schwarze Sound eroberte nun endgültig das weiße Publikum. Um für die Entertainment-Kultur freigeschaltet zu werden, mußte dieser allerdings mit dem spätromantischen Klangbild zusammenfinden, und zwar unüberhörbar, also im Rahmen eines großen Erfolges. Diese Aufgabe erfüllte George Gershwin mit der „Rhapsody In Blue“, einem Klavierkonzert in einem Satz, das 1924 die schwarzen Grooves ins Repertoire des Konzertsaales einführte.°° Die hier gebotene Mischung aus E- und U-Musik (um es mal flapsig auszudrücken), wurde zum Idiom des Musicals, der Schlager und bald auch der Filmmusik.
Gershwin war der Sohn jüdischer Einwanderer, und praktisch alle wichtigen Songschreiber der ersten Jahrhunderthälfte (mit Ausnahme von Cole Porter) waren Juden.
Den jüdischen Komponisten also oblag die Schaffung des Repertoires, das die Westliche Welt nun bis Mitte der 50er Jahre als Popmusik ansehen sollte. Dieses Repertoire, das sogenannte „Great American Songbook“, ist im Wesentlichen jüdische Musik.

Heute soll uns aber die Rolle der dritten Einwanderergruppe besonders beschäftigen, die der Iren.

Der irische Unterhaltungs-Mutant

Die Kultur der Iren hat sich besonders in der amerikanischen Folklore festgesetzt. Country Music und Irish Folk weisen unüberhörbare Gemeinsamkeiten auf. Die irischen Volkstänze finden sich im Stepptanz wieder, dem archetypischen Tanzstil, der das Musical von der Operette unterschied. (Es waren wiederum die Schwarzen, die aus dieser europäischen Beinarbeit etwas machten, was mit dem ganzen Körper getanzt wurde.) Die wichtigste irische Zutat ist allerdings eine, die uns heute so selbstverständlich erscheint, dass wir sie völlig vergessen haben: die irischen Komödianten sind die Erfinder des prototypischen Entertainers.

Dieses neue Berufsbild – für das es in der europäischen Kultur keine Entsprechung gibt – erforderte z.B. einen nicht-klassischen Gesangsstil, der gleichwohl professionell war und handwerklichen Grundsätzen folgte. Wer öffentlich sang, war zuvor ein „legitimate performer“ gewesen, also fiel für den irischen Stil nur die hilflose Bezeichnung „non-legitimate“ ab. Der setzte sich so rasch durch, dass man bald auf den klassischen Gesang als Ausnahme hinweisen mußte. (Parallel dazu entwickelte sich in Deutschland das Chanson, das die Mitte zwischen dem lyrischen Liedvortrag und dem reinen Sprechgesang auslotete.°°°)
Der irische Vortragsgestus beruhte aber ganz Wesentlich auf Unverwechselbarkeit. Der Personalstil, eine einzigartige Marotte, war wichtiger als die Fähigkeit zu tanzen, ein Kunststück oder ein Instrument zu beherrschen (was gewissermaßen vorausgesetzt und wie nebenbei serviert wurde). Das Alleinstellungsmerkmal konnte in skurriler Häßlichkeit bestehen, in einer merkwürdigen Art, sich zu kleiden oder in einer sorgfältig kultivierten schlechten Angewohnheit. Nicht umsonst ist ja auch die irische Ausgabe des Kobolds – der Leprechaun – eine bis heute vertraute Klischeefigur.

Wer sich von diesem Phänotyp ein Bild machen möchte, dem sei der Film „Yankee Doodle Dandy“ von 1942 empfohlen. Der preisgekrönte Hauptdarsteller James Cagney, der nebenbei einer der wichtigsten Gangster des Depressionskinos war°°°°, verkörpert hier George M. Cohan.
Cohan war ein in Deutschland ausgebildeter Ire, genau wie Victor Herbert, mit dem er sich Vaterschaft des Musicalgenres teilt.
Cohan war außerdem der Star der von ihm geschriebenen, getexteten und komponierten Shows, eine Entertainment-Maschine. Der Film läßt Cohans Tage als Kind einer Vaudeville-Familie aufleben, einer Theatertruppe also, in der man von Geburt an auf Timing, Körperlichkeit und eine nicht abreißende Verbindung zum Publikum getrimmt wurde.
Besonders schön läßt sich dieses Berufsbild an zwei Szenen bestaunen. Cagney und seine Partnerin versuchen, einen Musikverleger für ihr Material zu begeistern und singen „Harrigan“ – Cagney hat den Bowler keck ins Gesicht geschoben, scheint sich dem Zuschauer fast auf den Schoß zu setzen und singt mit allen Gliedmaßen. Sein Vortrag ist wie ein anregendes Gespräch, in das man unerwartet als Besucher einer Eckkneipe verwickelt wird.
In „Give My Regards To Broadway“ erleben wir die unnachahmliche Art James Cagneys zu steppen – mit einem schlenkernden Marionettenkörper, federleicht und doch präzise und mit einer Kraft, als könnte er damit einen Nagel in die Wand befördern. (In der Tat tanzt Cagney zuweilen auch waagerecht …)

Ein fahrender Musikant

Cliff Edwards ist ein recht gut dokumentierter Vertreter dieser ersten Entertainergeneration – etwa als Stimme von Jiminy Cricket in „Pinocchio“ und als Ur-Interpret des Standards „Singin‘ In The Rain“.
Sein Markenzeichen war die allzeit bereite Ukulele, sein Spitzname „Ukulele Ike“. Er war derartig beliebt, dass er – auch dies eine Novität des Musical-Konzeptes – so in die Show eingebaut wurde, dass es ihm möglich war, allabendlich in mehreren Theatern aufzutreten. Die jeweilige Produktion wies ihm entweder einen Auftritt im ersten Akt zu, kurz vor der Pause oder auf dem „Eleven o’clock Spot“ vor dem Finale. Dazwischen mußte Mr. Edwards ins Taxi steigen und eine Fahrt über den Broadway unternehmen.

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° siehe Blog vom 25.12.2014: „Tenement Symphony“
°° siehe Blog vom 12.2.2015: Das wichtigste Musikstück des 20. Jahrhunderts
°°° siehe Blog vom 18.1.2015: “Was ist ein Chanson?”
°°°° siehe Blog vom 15.12.2014: Die Pampelmusenszene

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