Armes reiches Mädchen

betr.: 113. Geburtstag von William Wyler, 99. Geburtstag von Olivia de Havilland

Die F.A.Z. stellte kürzlich fest, dass Literaturklassiker in diesem Lesesommer und überhaupt in jüngerer Zeit wieder hoch im Kurs stehen. Was mich beim Empfangen dieser frohen Botschaft besonders freute, war der Hinweis, dass der bisherigen Auflage von Henry James‘ „Washington Square“ von zehntausend Exemplaren nur vierzig E-Book-Downloads gegenüberstehen. Das tröstet den vom Buchhandlungssterben gebeutelten Kunstfreund.

„Die Erbin vom Washington Square“ ist abgesehen von ihrem Anteil an dieser Erfolgswelle in den letzten Jahren sowohl fürs Radio wie auch fürs Kino neu bearbeitet worden. Ich wollte nichts davon hören oder lesen, weil mich bereits die filmische Umsetzung von 1949 wunschlos glücklich gemacht hat.
Ihr Regisseur William Wyler war einer großen Tragödienmeister Hollywoods (wenngleich er darauf nicht festgelegt war), und selten habe ich so schrecklich gelitten und mich hinterher so erfrischt (weil blendend unterhalten) gefühlt wie nach „Die Erbin“ mit Olivia de Havilland in der Titelrolle, Ralph Richardson als ihrem Rabenvater und Montgomery Clift als dem betörend schönen Ohnemichel, der es auf ihr Erbe abgesehen hat.

Selbstredend ist diese Geschichte, die in den feinen New Yorker Kreisen der Jahrhundertwende spielt, hochaktuell. Es geht um die Unsicherheiten der Jugend, die auch in unserer Zeit eines strammen Jugendwahns nicht abreißen.
Seit dem Tod seiner geliebten Frau lebt der reiche Arzt Dr. Sloper allein mit seiner Tochter Catherine. Zu seinem Leidwesen hat sie gar nichts vom Charme und Esprit ihrer Mutter geerbt, die bei ihrer Geburt starb. Catherine ist ein Mauerblümchen: ungeschickt, schüchtern und nicht eben ein heißer Feger. Ihr Vater läßt sie das jederzeit spüren, zu verbittert ist er über den „Tausch“, den er da gemacht hat.
Bei einer Tanzveranstaltung, die sie nur widerwillig besucht, lernt Catherine den gutaussehenden Morris Townsend kennen und verliebt sich in ihn. Dr. Sloper wittert Erbschleicherei da es dem flotten Burschen ja wohl kaum um die Schönheit seiner Tochter gehen kann.

SPOILERWARNUNG – ab hier bitte ggf. nicht weiterlesen!

Catherine probt den Aufstand und ist sogar bereit, auf ihr Erbe zu verzichten. Damit befördert sie ungewollt die Wahrheit ans Licht.
Die Szene, in der Catherine mit ihrer Tante nachts auf die Kutsche wartet, in der sie mit Morris durchbrennen will, ist Suspense von der schlimmsten Sorte.
„Er ist gieriger geworden“, wird sie gegen Ende der Geschichte sagen. „Früher hat er nur mein Geld gewollt, jetzt will er mich noch dazu!“ Zu diesem Zeitpunkt der Handlung ist Dr. Sloaper schon gestorben, aber dennoch siegreich geblieben. Er hat sich an seiner ungeliebten Tochter für seinen großen Verlust gerächt und eine für alle Zeit unglückliche Frau aus ihr gemacht.

Ein wichtiges Argument des englischen Teenagers Ella Claire, die im „Guardian“ zum o.g. Klassiker-Boom zitiert wird, gilt auch für Wylers Drama: „Der eigene Wortschatz erweitert sich wie von selbst. (… ) Wenn ihr Klassiker lest, werdet ihr euch unter Gleichaltrigen intellektuell anerkannt fühlen … Kommt schon, das wollen wir doch alle!“
Das wollte auch Catherine, die Erbin vom Washington Square.

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