Der Gegen-Grass

betr.: 88. Geburtstag von Ludwig Harig

Obwohl wir seit den 90er Jahren im Fernsehen zuverlässig mit poppigen Dokumentationen zum Dritten Reich versorgt werden und das ZDF inzwischen einen Digitalkanal bewirtschaftet, der sich fast ausschließlich damit beschäftigt, hält sich die Annahme, heute / uns könnte „sowas“ (die demokratische Wahl eines derartigen Despoten) nicht passieren.
Dagegen könnten die täglichen Nachrichten über den Vormarsch national(sozial)istischer Kräfte in Europa helfen sowie einzelne literarische Zeugnisse wie das 1990 erschienene autobiografische Buch „Weh dem, der aus der Reihe tanzt“ von Ludwig Harig.

Als Halbwüchsiger erlebt der Autor (Jahrgang 1927) in seiner Heimatgemeinde Sulzbach den Anschluß des Saarlandes an den NS-Staat. Er wird zum begeisterten Pimpf und Trommler. Das Ende des Krieges erlebt er im Arbeitsdienst.
Er bekennt sich dazu, die Phrasen, den Kitsch, die Propaganda nicht hinterfragt und mit dem Jubeln bis zuletzt nicht aufgehört zu haben. Das Buch berichtet sehr detailfreudig, wie gut der Nationalsozialismus zu der Idylle paßte, die er vorfand, und wie harmonisch er sich aus dieser heraus entwickeln konnte, aufbauend auf den bereits vorhandenen Vorurteilen und moralischen Nachlässigkeiten.
Der Ich-Erzähler, ein netter Junge von 15 Jahren, verroht schnell und beiläufig und ist auf einmal zu immenser Grausamkeit in der Lage.
Mit dem Ende des Krieges ist ebenso plötzlich alles vorbei, verschwindet innerhalb kürzester Zeit das braune Gedankengut aus den Köpfen der Menschen. Es muß einem Großteil der Deutschen – so legt es das Buch nahe, und so wurde es von integeren Zeitzeugen mit einem gewissen Unbehagen bestätigt – erstaunlich leicht gefallen sein, die Barbarei 1945 wieder abzustreifen.
Es war sicher hilfreich, damals um die zwanzig zu sein und nicht ausgerechnet von den Russen befreit zu werden.

Das Makabere an Harigs Schilderung ist der Eindruck, dass es gar keinen Widerspruch bedeuten muß, ein liebenswertes, phantasiebegabtes Kind und der gefühllose
Zögling einer Diktatur zu sein. Wie man sich erinnert, ist es das Volk von Hölderlin und Goethe gewesen, vom dem der Krieg ausgegangen war.
Ludwig Harig hat diese Aufarbeitung spät vorgelegt – nach einem öffentlichen Leben, in dem er sich als Demokrat bewährt und bewiesen hat. Seine Geschichte ist kein Einzelfall, aber sein bleibendes Bekenntnis, wie lieb und vergnüglich ihm diese Jugendjahre gewesen sind und wie gut ihm seine Jugend dabei half, noch bis ins Frühjahr 1945 die unweigerlich bevorstehende Niederlage zu leugnen, ist es wohl.

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