Die wiedergefundene Textstelle: „Das Mädchen auf der Planke“

betr.: 405. Geburtstag der Hudson Bay

Cadwiller Oldens Kabarettstück „Kinderchen, jetzt muß ich aber“ ist ein Solo-Abend für eine Schauspielerin, die keine Angst vor Chargen und Trickstimmen hat. Von einem Psychiater in Hypnose versetzt, findet sich die Heldin in den zahlreichen Identitäten wieder, die sie schon hinter sich hat und die sie im Rahmen weiterer Reinkarnationen noch erleben wird.
Eine davon ist ein Mädchen, dass offensichtlich auf dem Priratenschiff in Ungnade gefallen ist, auf dem es die letzten Monate verbracht hat, und nun über die Planke geschickt wird.

Das Mädchen auf der Planke

Das Mädchen balanciert von links nach rechts und droht, den Halt zu verlieren.

Eins – zwei – drei – huaach!

Sie stabilisiert sich, bedeutet dem unsichtbaren Burschen links von / hinter ihr, einen Augenblick zu warten und wendet sich dem Publikum zu. Sie nimmt dazu eine selbstbewußte Haltung ein.

Es ist immer wieder grässlich, von einen blutrünstigen Piratenkapitän über die Planke geschickt zu werden – besonders, wenn es sich um Big Macoco handelt, auch bekannt unter dem Namen Big „Mops“ Macoco – gegen den ist der schreckliche Sven nur ein ungemütlicher Chef mit Holzbein. Ach ja, und diese lustige Kugel mit den Stacheln, die er immer bei sich hat.

Je nun, Sie sehen schon, es ist nicht der beste Zeitpunkt, den Sie sich ausgesucht haben, um nach mir zu sehen. In ein paar Sekunden werde ich zu den Fischen geschickt … Nein, nein, das geschieht natürlich nicht wirklich so ohne Weiteres – in letzter Minute wird mich natürlich einer von den netteren Piraten aus dieser Notlage befreien, so jemand wie … der Rote Korsar, Burt Lancaster in seinen wildesten Zeiten. Gut, der kann’s diesmal nicht sein – denn er müßte sich ja schon ankündigen. In einer Kogge kann man sich nun mal nicht heranpirschen. Tja, wenn das hier ein Western wäre … egal.
Irgendjemand wird schon auftauchen … eine Meuterei vielleicht? Ach nein, diese Trantüten taugen nicht zu einer Meuterei. Dazu ist der olle Mops dann doch zu gemütlich und knuddelig. Er erinnert mich irgendwie an Charles Laughton, den Anführer der Schmugglerpiraten. Und so süß, wie er immer seinen Text vergisst. Gestern rief er doch tatsächlich: „Alles klar zum … zum …ähä … ähähäää…“
Na, die Gesichter der Piraten hätten Sie sehen müssen.
Alles erstarrte und hing an seinen Lippen.
Es war, als hätte der liebe Gott auf die Pausentaste gedrückt.
„Entern!“ rief dann irgendwann jemand – ich glaube, es war der Papagei auf seiner Schulter – und der Mops nickte fröhlich, und alles ging noch mal gut aus.

Sie haben es schon erraten: was wir hier zusammen erleben, sind diese berühmten letzten Sekunden im Leben, an denen die ganze Schose noch einmal am inneren Auge vorbeizieht. Gut, nun sind Sie ja da, und deshalb gibt’s ne kleine Programmänderung – aber das macht nichts. Ich meine, ich hab’ das ja alles schon mal gesehen.
Vielleicht kommt ja auch Hans Albers auf seiner Kanonenkugel vorbeigeritten und nimmt mich mit. Ich meine, ich hab ihn nie leiden können. Ich halte ihn für einen miserablen Schauspieler. Immer dieses altväterlich-joviale Gelalle … Ich habe mal gelesen – das war sogar ein durchaus seriöses Buch – dass er nie seine Texte konnte und auch meistens schon einen sitzen hatte, wenn er aus der Maske kam. Er las seine Dialoge immer von sogenannten „Negern“ ab, die überall in der Dekoration aufgestellt waren, und es war dieses angestrengte Glotzen in die Kulisse, was dann vom Kinopublikum als fernwehschwangerer Blick in die Weiten des Meeres missverstanden wurde. Nein, leiden konnte ich den schon vorher nicht, noch ehe ich diese Geschichte gelesen habe. Aber wenn er jetzt zufällig hier vorbeikäme … auf seiner … Kugel … ich würd’s nicht so eng sehen und mitkommen.
Peter Pan wäre mir natürlich lieber, dieser drahtige, hübsche, kleine Kerl!
Herrgott, im letzten Augenblick seines Lebens wird man doch wohl noch mal unbescheiden sein dürfen!

Immerhin habe ich keine Höhenangst! Höhenangst ist doch sowieso nur ein Modebegriff … man hat Angst davor, etwas Neues auszuprobieren. Zu fliegen!
Nehmen Sie sich ein Beispiel an den Lemmingen, diesen kleinen Hamstern, die die Wissenschaft immer wieder in Erstaunen versetzen, weil sie scharenweise von Klippen springen.
Ich sage Ihnen was: die sagen sich: so haben es die Möwen auch gemacht, die Tauben, die Raubvögel – all diese Kreaturen, die heute in der Lage sind, sich über die Mühsal der Ebene zu erheben und über all die Hamster, Piraten und sonstige Fußgänger, die dort unten herumkriechen.
Wir wissen nicht, wie viele blaue Flecken der Hühnerhabicht einstecken mußte, bis er endlich fliegen konnte.

Was meinst Du, Mops! Versuchen wir’s! Ja, wir beide, komm doch mit!
Ich meine, für Dich ist es doch auch mal was anderes! Lass uns fliegen!
Komm! Wir beide! Breite die Flügel aus und fliege!

Ach, und falls was schiefgeht, die Fauna der Tiefsee soll ja großartig sein – Kinderchen, jetzt muß ich aber!
Juhuuuu!
Nach dir, mein Bester …

Übersetzt von Monty Arnold

Dieser Beitrag wurde unter Kabarett und Comedy, Literatur, Manuskript, Übersetzung abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert