Unsere größte Diseuse! – Beiderlei Geschlechts

betr.: 58. Geburtstag von Georgette Dee

Das Chanson° – in der deutschen Bedeutung des Begriffs – braucht gesellschaftliche Relevanz, obwohl es sich inhaltlich beileibe nicht nur mit Politik auseinandersetzt. Folgerichtig hatte es seine erste Blüte in der Zwischenkriegszeit. Seine frühesten Helden (Autoren / Komponisten wie Hollaender, Brecht, Tucholsky …) und Heldinnen (Diseusen wie Margo Lion, Blandine Ebinger, Trude Hesterberg …) wirkten in den Jahren des ersten deutschen Demokratieversuchs und wurden von den Nazis gestoppt.
Das Chanson wurde als hiesige Kunstform wieder volkstümlich und aktuell, als mit dem Ende der 60er Jahre eine neue Protestbewegung ausbrach. Parallel zu dem heute teilweise etwas verbissen wirkenden Agitpropgesang von Biermann, Degenhardt, Wader & Co. gedieh auch die Parodie darauf: der fröhliche Nonsens der Blödelbarden Schobert & Black, Insterburg & Co., Ulrich Roski, Mike Krüger und Kollegen. Dazwischen lag der lyrische Reinhard Mey, doch der konnte auch blödeln und protestieren.
Die bisher letzte Blüte dieser Liedgattung besteht nur aus einer Person: Georgette Dee.

Geburtstagslieder f H - GDee f

Georgette Dee (unverzichtbar an ihrer Seite: ihr Begleiter Terry Truck!) ist ein Star, der meine Huldigung nicht braucht – aber das weiß eben nicht jeder. In all den klugen und wohlverdienten Elogen, die ich bisher über sie gehört und gelesen habe, fehlt der entscheidende Hinweis: sie hat Mitte der 80er Jahre das Chanson neu erfunden, ihm seine seither gültige zeitgemäße Form gegeben und auf diesem Gebiet auch viele der schönsten Beispiele vorgelegt.
Die sie umgebende gesellschaftliche Relevanz in dieser vordergründig betont unpolitischen Phase („Null Bock auf gar nichts!“ hieß die Devise) lag in dem Weg der Homosexuellen aus der Senkgrube der Halbwelt und eines unappetitlichen Außenseitertums in die Mitte der (Medien-)Gesellschaft. Das wurde von Georgette Dee nicht kämpferisch oder mahnend begleitet. Sie zeigte stattdessen auf, wie irrelevant die sexuelle Neigung ist, wenn es um Gefühle geht.
Und indem sie das tat, erhob sie etwas bisher nicht Dagewesenes zu ihrer Norm: sie führte alle Chansongattungen zu einer einzigen zusammen, in beinahe jedem einzelnen gerade stattfindenden Song. (Das war bisher nur im Dietrich-Chanson „Black Market“ gelungen – 1948.)
Bei alledem ist der Hermaphrodit Georgette eine Diva wie aus dem Bilderbuch: mondän, weltläufig, sinnlich und voller Ironie. So sehr sie die o.g. alten MeisterInnen auch stets in ihrer Nähe hat, ihre Lieder wären zuvor so nicht möglich gewesen. Dabei emanzipiert sie sich mühelos sowohl von der Öffentlichkeitsarbeit der Schwulenbewegung als auch vom bieder-zynischen Selbstmitleid der zeitgenössischen Travestie-Shows.

Diese historische Leistung der Dee, die erfolgreicheren Kollegen wie Tim Fischer und Max Raabe den Boden bereitet hat, ist völlig unbemerkt geblieben. Und sie war nur in der Intimität einer Subkultur möglich, der schwulen Subkultur, die heute nicht mehr existiert – im Schoße ihres ganz persönlichen Publikums. Hier konnte sie sich bei ihren Konzerten überall im deutschen Sprachraum auch in größeren Hallen stets darauf verlassen, dass sie jederzeit von allen verstanden wurde. Wer diese Auftritte miterlebt hat, den wird bei ihren Abenden vor der breiteren Masse des bürgerlichen Varietépublikums mitunter etwas Wehmut beschlichen haben.

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° siehe dazu auch den Blog vom 18. Januar 2015

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