Stand Up ohne Mikrofon

betr.: 180. Geburtstag von Mark Twain

Einige Meister der Weltliteratur, die wir üblicherweise eingeschlagen in dickes Schweinsleder antreffen, waren zu ihrer Zeit so etwas wie Popstars. Sie veröffentlichten nicht nur, sie traten auch mit ihren Texten auf, und ihr Erfolg war am größten, wenn es dabei etwas zu lachen gab.
Charles Dickens war ein besonders beliebter Vertreter dieser Gattung und seine Lesungen gesellschaftliche Ereignisse, obwohl wir seine rückhaltlosen Schilderungen des sozialen Elends unter Queen Victoria heute kaum der Unterhaltungslektüre zuordnen würden.
Den witzigen Mark Twain können wir uns als Live-Performer da schon besser vorstellen.

Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in den USA eine eigene Form der volkstümlichen Bühnenkunst. Während in Europa z.B. das Fundament des Kabaretts gelegt wurde°, blühten in den Staaten die Minstrel Shows, in denen das Zusammenleben von Schwarzen und Weißen verballhornt wurde.°° Außerdem kristallisierte sich der Typus des Platform Lecturers heraus, einer Art Urform des Stand-up-Comedian wie auch des Kabarettisten, dessen heutige Entsprechung aber vor allem im Poetry Slam anzutreffen ist. Diese Künstler nahmen kulturelle und sprachliche Unterschiede aufs Korn, übten Sozialkritik (wie auch ihre musikalischeren französischen Kollegen der Epoche), und immer wieder wurde Europa die lange Nase gezeigt. Amerika war schließlich im Begriff, es der Welt zu zeigen – nicht nur der Alten.

Diesem Podium entsprang Charles Farrar Browne, der mit „Artemus Ward“ bereits eine Kunstfigur hatte wie viele aktuelle Comedians. Browne war für die Entwicklung der Kultur des Lecture Circuit von großer Wichtigkeit. Berühmter noch – vor allem auf einem anderen literarischen Gebiet – wurde der ein Jahr jüngere Samuel Langhorne Clemens, den wir als den großen Erzähler Mark Twain kennen.
Unabhängig davon ist Mark Twain auch als literarischer Kabarettist eine herausragende Gestalt. Er bündelte die vorhandenen Traditionsstränge und lieferte eine Art parodistisches Kompendium des Genres, das er damit vollendete.
Er leistete Bahnbrechendes im Umgang mit Pausen, der Wechselwirkung von Realismus und Übertreibung und kultivierte den Stegreif-Stil – alles Primärtugenden des Comedy-Handwerks. Natürlich war auch (und umso mehr) in seinen Vorträgen zu erleben, was ihn in Schriftform auszeichnete: die eigene Sprache, die er jeder seiner Figuren zubilligte.

Über eine von ihm selbst aufgestellte Regel setzte er sich allerdings notgedrungen hinweg: „Der Güte Gottes verdanken wir in unserem Lande drei kostbare Dinge: die Freiheit des Gewissens, die Freiheit der Rede und die Klugheit, keine davon in Anspruch zu nehmen.“ Eine gute Pointe ist dann doch immer das Wichtigste.

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° siehe dazu auch den Blog vom 18. Januar 2015
°° siehe dazu auch den Blog vom 11. Januar 2015

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