Unser größter phantastischer Autor

betr.: 109. Geburtstag von Günter Eich

Das Träumen ist im „St. George Herald“ zur Zeit Thema der Serie „Gottes Brot und Teufels Aufstrich“. Das war es auch in Günter Eichs wichtigstem Werk, dem Hörspiel „Träume“ (siehe weiter unten).
Den Traum der alleinigen Deutungshoheit der Poeten, Phantasten und Okkultisten zu entreißen und ihn auch zum Gegenstand seriöser Forschung zu machen, gelang Sigmund Freud mit seiner „Traumdeutung“. Dieses Buch kam pünktlich zur Jahrhundertwende, auf dem Höhepunkt einer künstlerisch wie wissenschaftlich rauschhaften Epoche. Im Jahre 2000 wurde im Historischen Museum in Wien der 100. Geburtstag der „Traumdeutung“ gefeiert. Die Ausstellung trug den Titel „Träume – 1900-2000 – Kunst, Wissenschaft und das Unbewusste“.
Dort und im dazugehörigen Katalog trugen fünf Fachleute tausend bildende Kunstwerke zusammen, die die Beschäftigung mit Traum und Unterbewusstsein zum Inhalt hatten. Trotz der offensichtlichen Mühe um ein möglichst breites Panorama fehlte in dieser Parade der Comic-Klassiker „Little Nemo In Slumberland“ von Winsor McCay*, gewissermaßen ein Zeitgenosse Sigmund Freuds.
Den Kunsthistoriker Alexander Braun regte das so sehr auf, dass er dem verschmähten Comichelden und seinem Schöpfer seinerseits eine Ausstellung und einen informationsträchtigen Katalog widmete.**

Auch Günter Eich wird gern übersehen oder besser: überhört.
Der heute nur noch von ausgewiesenen Literaturfreunden erinnerte Dichter war unser wichtigster Hörspiel-Autor, als Hörspielen noch im Kreise der Familie gelauscht wurde. Es waren – gleichwohl – Hörspiele für Erwachsene, und das ist ein Grund für seine heutige Obskurität. Die Erwachsenen der Nachkriegszeit sind nicht mehr da, und die Hörspielgemeinde von heute liebt noch immer die Jugendabenteuer, mit denen sie aufgewachsen ist. Von Eich weiß sie schon deshalb nichts, weil sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Pfleger dieses Nachlasses verweigert.
Daher kann die Gemeinde auch nicht wissen, wie viel Spaß sie vielleicht mit Günter Eich hätte. In seinen Arbeiten gibt es fast immer ein überirdisches Element, einen Fantasy- oder Horror-Einschlag, der die zumeist sehr alltäglichen Heldinnen und Helden mit hämischer Plötzlichkeit heimsucht.

Fünf gute Beispiele dafür liefert das einzige Eich-Hörspiel, das immerhin in großen Abständen von Zeit zu Zeit wiederholt wird: „Träume“. Es erklingt dann in verschiedenen Fassungen, denn es war so skandalös und aufsehenerregend – „umstritten“ ist das Modewort der Stunde -, dass sechs (!) Funkhäuser Remakes davon herstellten: der HR noch im Jahr der Urfassung 1951, der SWF 1955, der ORF-Steiermark 1964, der BR 1964, der Rundfunk der DDR 1981, und der NDR 2007 – im Rahmen eines vierstündigen Features zum 100. Geburtstag des Autors.

Die erste der fünf Alptraumszenen erzählt von Menschen, die bereits seit Jahrzehnten in einem dunklen Güterzug fahren und sich nur noch schemenhaft an die Freiheit erinnern, der zweite von einem chinesischen Vampir, der sechsjährige Kinder bevorzugt und diese von seiner Haushälterin schlachten und ausweiden läßt. Diese Geschichte erregte derart heftigen Publikumsprotest, dass sie in den meisten Neuauflagen durch eine vorweggenommene Dürrenmatt-Parabel ersetzt wurde: nun tritt hier ein Finanzbeamter auf, der sich unwissend per Knopfdruck zum Henker macht. Der Tritte Traum handelt von einer Familie, die von Riesen aus ihrer Siedlung vertrieben wird, der vierte von einem Urwaldforscher, dessen Expeditionsmitglieder von einem Vergessensfluch heimgesucht werden. Im fünften Traum höhlen Termiten, die sich nicht länger auf Holz beschränken, auch Dinge und Menschen aus.
In Rod Serlings TV-Klassiker „The Twilight Zone“ hätte Günter Eich eine gute Figur gemacht, aber eine solche transatlantische Zusammenarbeit wäre für einen Autor in den 50er und 60er Jahren ein noch größeres Unding gewesen als in unseren Tagen.
Rod Serling kann diese Entdeckung nicht mehr nachholen – wir schon.

_________________________________
* siehe dazu auch den Blog vom 4.2.2016
** Alexander Braun: „Winsor McCay (1869-1934). Comics, Filme, Träume“, Bocola Verlag (Januar 2012), zum Autor siehe auch unsere Reihe „Going West!“

Dieser Beitrag wurde unter Fernsehen, Hörspiel, Literatur, Medienkunde, Medienphilosophie, Popkultur, Science Fiction, Theater abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert