Im Kabarett gewesen … geweint.

betr.: Sebastian Krämer und die Poetische Ambulanz St. Georg im Hamburger Polittbüro

Am liebsten sehe ich Glanzleistungen zu, die mich nicht einschüchtern müssen: ein virtuoser Klavierlauf, ein erfolgreicher Kampf gegen ein Weltraum-Monster, der Stepptanz von Fred Astaire … – solche Sachen. Das Schöne daran ist, dass mich niemand – vor allem nicht ich selbst – dazu auffordern wird, sie nachzumachen. Ich habe diese Berufe nun einmal anständig verfehlt.
Schlechtes Kabarett und miese Kleinkunst ärgern mich immer – dazu sind sie ja da. Aber so schlimm ist es dann auch wieder nicht, denn ich kann es ja besser.
So leicht komme ich bei Sebastian Krämer nicht davon.
Da ist zunächst einmal die schiere Flut perfekter Vorträge: er stößt Chansons auf Kreisler-Niveau aus wie eine Kette von Würstchen. (Und zwar auf dessen bestem Niveau, das Kreisler selbst oft verfehlt.)
Er hat den innigsten Kontakt mit dem Publikum, schlägt aber unentwegt Haken und entwischt ihm.
Er ist angemessen boshaft, aber gütig und frei von jedem Nihilismus.
Er ist ein Mensch aus dem Volke, und trotzdem hat er etwas zu erzählen, was ich nicht schon vorher weiß.
Er überspringt die Warmwerde-Witzchen, mit denen die meisten Heroen der Kleinkunst ganze Abende zubringen, und begegnet dem Saal sofort auf Augenhöhe. Und der Saal freut sich, dass man ihn ausnahmsweise mal richtig ernst nimmt.

Und ich? Ich armes welsches Teufli sitze im Publikum, lache Tränen und bin entzückt. Und im jeweiligen nächsten Augenblick schimpfe ich mit mir, weil mir all das eigentlich auch hätte einfallen können. Ist es aber nicht! Wäre es wohl auch nicht. Warum nicht? Keine Ahnung. Hätte es eigentlich können müssen. … Mir wächst eine unsichtbare zänkische Gattin, die mich unentwegt am Ohr zieht und ermahnt, härter zu arbeiten.
Und währenddessen muss ich mich natürlich längst wieder kugeln über das, was da vorne passiert.
Ein Abend mit Sebastian Krämer ist ein Abend, an dem ich nicht zur Ruhe komme – als Mensch, der ebenfalls gern Leute unterhalten möchte. Wie schön haben es doch all die Zahnärzte, Tropenmediziner, Gegenspione und Kleintierzüchter im Publikum, wie herrlich die Angehörigen der Baubranche, der sozialen Berufe und des Einzelhandels.

Sebastian Krämer feiert mit seinen abgründigen Liedern Erfolge auf Kleinkunstbühnen, Poetry-Slams, Festivals und in Funk und Fernsehen. Seine Lieder handeln nicht ganz so ausschließlich von Sehnsucht, wie der Künstler es den Medien gern souffliert. Es geht auch schonmal um freche Hunde, Darknet-Vamps im ÖPNV, liegengelassene Puppen, Schulausflüge oder pensionierte Sportler. Und sie sind meistens ziemlich komisch.
Schon in seiner Schulzeit trat Sebastian Krämer mit selbstgeschriebenen Programmen auf und gewann mehrere Wettbewerbe. Auf Christoph Stählins „Sago – Mainzer Akademie für Musik und Poesie“ verfeinerte er sein Liedermacher-Handwerk und tauschte sich mit Gleichgesinnten aus.
Seit Ende der 90er Jahre wohnt der gebürtige Ostwestfale in Berlin und gehört zum festen Autorenstamm der Lesebühne „Dienstagspropheten“. Im „Zebrano-Theater“ in Friedrichshain ist er gar Künstlerischer Leiter und veranstaltet an jedem ersten Sonntag im Monat den „Club Genie und Wahnsinn“, die laut Eigendefinition „Berliner Loge für Intelligenz, Musik und Unfug“. Er versteht sich als Chanson-Künstler – was Veranstalter, Redakteure und Lokalpresse nicht hindert, ihn oft unter „Kabarett“ einzuordnen. Zweimal gewann er die deutschsprachige Poetry-Slam-Meisterschaft, seit 2002 ist er Ausrichter eines eigenen Poetry-Slam in der berühmt-berüchtigten Berliner JeKaMi-Bühne „Scheinbar“.

So unverkennbar seine Texte sind, als Musiker hat Sebastian Krämer keinen Personalstil. Dennoch erkennt man ihn sofort am immensen melodischen Reichtum und der Vielzahl der Musikstile, die er wie im Vorbeigehen nutzt, wenn es ihm passt. Diese freche Fähigkeit zu huldigen, zu parodieren, zu klauen und zu zitieren, erinnerte mich an die französischen Filmkomponisten der 50er bis 70er Jahre. Als ich ihn fragte, ob er sich die etwa zum Vorbild genommen habe, stellte sich heraus, dass er sich nie mit ihnen befasst hat („Die wiederholen sich zu oft …“). Er hat ganz offensichtlich die selben Vorbilder studiert wie diese Kollegen: die Klassik, den Jazz, die Folklore, das Stimmungslied … und wirklich nichts ausgelassen.

Liebe Nicht-Entertainer: Sie können Sebastian Krämers Programm genießen wie ich das Geigenspiel von Jascha Heifetz genieße. Oder das Mienenspiel von Oliver Hardy. Oder eine dicke, kleine Kohlmeise, die sich auf mein Balkongeländer setzt und mir an meinem Arbeitsplatz einen unbezahlbaren Blick zuwirft.

Uns geht’s doch gut!

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