Der Song des Tages: „Mon Ami, My Friend“

betr.: 67. Todestag von Kurt Weill

Kurt Weill wird hierzulande noch immer darauf reduziert, einige wichtige Vertonungen für Bertolt Brecht vorgenommen zu haben, während seine Karriere am Broadway ignoriert bzw. übergangen wird. Ein ostdeutsches Musical-Lexikon* formuliert den tendenziösen, aber bis heute gepflegten Vorbehalt, Weill habe „sich bemerkenswert erfolgreich auf den Theaterbetrieb des Broadway umgestellt (…) (zweifellos mit Gewinn UND Einbußen in künstlerischer Hinsicht)“.
Die an Weill aufrichtiger Interessierten haben – jenseits geschmacklicher Beurteilungen, die nur vornehmen kann, wer auch seine Musicals kennt – immerhin bestaunt, wie vollständig sich der deutsche Avantgardist der 20er Jahre in New York stilistisch in einen amerikanischen Komponisten verwandelt hat.
Das geschah allmählich. Kurt Weills erstes Broadway-Musical „Johnny Johnson“ ist ein gesellschaftspolitisches Stück wie einst in Berlin (eine Antikriegssatire), und die Musik klingt noch – so ist es am Allgemeinverständlichsten formuliert – nach dem Weill’schen Brecht.

Der Song „Mon Ami, My Friend“ ist ein gutes Beispiel dafür. Er gehört weiterhin zu den Songs mit doppeltem Boden, zu jenen Liedern, die man als reines Hörerlebnis mühelos versteht und die eine völlig neue Wirkung entfalten, wenn man weiß, was während ihres Vortrags im Stück passiert. (Ein weiteres Exempel für diesen Effekt ist das scheinbare Liebes- und Loyalitätsduett „Not While I’m Around“ aus Stephen Sondheims „Sweeney Todd“. Es gibt viele andere …)
Während die Sängerin mit „Mon Ami, My Friend“ einen feindlichen Soldaten zum Sex überreden will – „Fraternisieren“ nannte man das – steigt sie bereits an ihm hoch. Der Angesprochene kann sich nicht wehren, denn die Dame ist eine Lazarettschwester und hat keinen Mangel an hilflosen hingebetteten Gespielen.
Bereits in Bertolt Brechts Drama „Mutter Courage und ihre Kinder“, das in einem viel früheren Konflikt angesiedelt ist, findet sich ein „Lied vom Fraternisieren“, das von Paul Dessau vertont wurde.
Doch auch hier ist der abwesende Weill nicht ganz unbeteiligt. Als Vorlage diente Dessau der berühmte „Surabaya-Johnny“ aus dem Singspiel „Happy End“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill.

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* Bez / Degenhardt / Hofmann: „MUSICAL – Geschichte und Werke“, VEB Lied der Zeit, Berlin 1980

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