Die schönsten Filme, die ich kenne (29): „Topsy Turvy“

In Großbritannien sind die Operettenkomponisten Gilbert & Sullivan Teil der Folklore, hierzulande ist der Hinweis nicht überflüssig, dass es sich um die Lieblingsentertainer der Queen Victoria, ihres Volkes und Zeitalters gehandelt hat. In dieses Setting, in die obere Etage der damaligen schröcklichen Zweiklassengesellschaft, entführt uns „Topsy Turvy“ von Mike Leigh.
Wie bei jedem guten Biopic wird sich hier auf einen bestimmten historischen Moment konzentriert, um die Figuren insgesamt auszuleuchten.
Es ist das Jahr 1885. Der in unerfüllter aber beständiger Ehe lebende Librettist William Schwenck Gilbert hat ein Problem. Nach einem völlig überraschenden weil ungewohnten Flop am Londoner West End eröffnet ihm sein Partner, der leichtlebige, ungebundene Komponist Arthur Sullivan, die Zusammenarbeit beenden zu wollen, um seriösere Werke zu erschaffen (Sinfonien o.ä.).
Der Besuch einer Japan-Ausstellung bringt den konsternierten Gilbert auf die rettende Idee für ein neues Stück, auf das sich sein Kollege doch noch einlässt: ein satirisches Märchen um den Tyrannen von Titipu, den „Mikado“. Die Operette wird ein Triumph, und das animose Theater-Paar bleibt für weitere Jahre und Erfolge zusammen.

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Cover des veröffentlichten Drehbuchs

Eine „Topsy Turvy“ ist eine mehrstöckige Torte, und das verweist auf den süßen Pomp und Budenzauber, der hier geboten wird. (Der deutsche Verleih legte es anders aus und fügte den Nachtitel „Auf den Kopf gestellt“ hinzu.) Aber alles Schwelgen in Farbenpracht, Sprachwitz und lieblichen Melodien ist nur das Hintergrundrauschen für die gezeigten Konflikte und historischen Details, der Kitsch ist penibel rekonstruiert und Teil der Erzählung. Authentisch werden der einstige Theaterbetrieb und seine Eitelkeiten abgebildet, ganze Ensemblenummern erleben wir sowohl aus der Perspektive des Publikums als auch im Detail der technischen Umsetzung bzw. auf der Probebühne. Bei der Entwicklung einer Nummer, die später „Three Little Maids From School“ heißen wird, müssen sich die Theatermacher um Mr. Gilbert mit japanischen Gästen verständigen, obwohl keiner den anderen versteht.
Die Illusion ist perfekt, dass es sich so zugetragen haben könnte, und jede Szene taugt zum Kabinettstückchen.

Zum Ensemble zählen der vielseitige Jim Broadbent als W. S. Gilbert, der im Mainstream-Kino zumeist als Untier in Kleinstrollen verheizte Timothy Spall als Darsteller des „Mikado“ und schließlich der Song-And-Dance-Man Martin Savage als George Grossmith. Dieser tuntige Morphinist und Menschendarsteller verwandelt sich mehrfach bis zur Unkenntlichkeit, z.B in den greisen König Gama aus „Princess Ida“, in den „Sorcerer“, der ein Dorf einschläfert und wieder erwachen lässt und als „Lord High Executioner“ im „Mikado“.
Ich bezweifle, dass ich diese Darbietungen jemals wieder so lichtvoll und herzbewegend zu sehen bekommen werde.
Die musikalische Leitung oblag Carl Davis.

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