Die wiedergefundene Textstelle: „… daß ich Rumpelstilzchen heiß‘“

betr.: Meg Rossoffs Artikel „Ich habe schon tausend Leben geführt“ im gestrigen Feuilleton der „F.A.Z.“

Im o. g. lesenswerten Artikel wird beklagt, wie streng in Erziehungsfragen zwischen „vernünftig“ (gut) und „kreativ“ (schlecht) unterschieden wird. Das war schon zu meiner Zeit so – der Satz „Du hast ja eine blühende Fantasie!“ aus dem Munde eines Erwachsenen bedeutete immer, dass man den Zeitpunkt, zu dem einen diese Person für voll nehmen würde, gerade wieder auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben hatte.
Als abschreckendes Beispiel eröffnet der Artikel mit der Nacherzählung eines Märchens, wie sie ein vernünftiger Mensch abliefern würde.
Beim Lesen fiel mir eine Kurzgeschichte von Will Stanton aus dem „Reader’s Digest“ vom Oktober 1969 ein, in der die gleiche Situation mit Humor genommen wird.
Hier sind die entscheidenden Stellen:

Da ist dieser arme Müller, der eine wunderschöne Tochter hat und eines Tages dem König erzählt, sie könne Stroh zu Gold spinnen. („Um sich ein Ansehen zu geben“, heißt es im Text, aber das kommt mir ziemlich albern vor. Da hat er einmal Gelegenheit, mit dem König zu sprechen, und erzählt so einen Unsinn.)
Einen König stellt man sich normalerweise als einen Mann von Welt vor, dem so eine Geschichte ein bißchen unwahrscheinlich vorkommen muß. (Er wird sagen: „Wenn Ihre Tochter Gold spinnen kann, wieso sind Sie dann so arm?“ Aber der König ist noch dümmer als der Müller. Er glaubt ihm aufs Wort.)
Der König bringt das Mädchen in ein Zimmer voller Stroh und sagt, das müsse sie bis morgen früh zu Gold gesponnen haben, sonst werde sie sterben. Dann geht er. (Ich freilich würde, wenn ich schon an die Geschichte glaube, dableiben und zusehen, wie sie das macht. Nicht so der König.)
Natürlich weiß das Mädchen nicht, was es machen soll und fängt an zu weinen. Da kommt ein Männchen herein und fragt, weshalb sie heult. Sie erzählt ihm die Geschichte, und er fragt, was sie ihm gibt, wenn er ihr das Stroh zu Gold spinnt. Sie bietet ihm ihr Halsband an, und das ist ihm recht … (Ein Halsband gegen ein Zimmer voll Gold! Sie ist in dem Augenblick bestimmt die einzige, deren Leben davon abhängt, daß sie Stroh zu Gold spinnt, und hereinspaziert kommt der einzige, der weiß, wie man das macht. Glück muß man haben!)
Der König ist am nächsten Tag hoch erfreut und bringt sie in ein größeres Zimmer voll Stroh. Derselbe Ablauf wie beim ersten Ml: Sie weint, das Männchen kommt, sie gibt ihm einen Ring, er spinnt das Gold, und der König freut sich. Er sagt, wenn sie ihm noch ein Zimmervoll spinne, werde er sie zu seiner Frau machen.
Als das Männchen diesmal fragt, was sie ihm geben wolle, sagt sie, sie habe nichts mehr. (Na ja, von einer Müllerstochter kann man nicht viel erwarten. Mir ist nicht einmal klar, woher sie das Halsband und den Ring hatte.) Das Männchen sagt, sie solle ihm ihr erstes Kind geben, und sie sagt ja. (Sie sagt offenbar immer, was ihr gerade in den Sinn kommt, genau wie ihr Vater.)
Am nächsten Tag wird sie Königin, und nach einem Jahr bekommt sie ein Kind. (Von einer Frau in einer solchen Lage würde man erwarten, daß sie ein bißchen nervös ist, ein bißchen gereizt. Aber nein.) Die Königin „dachte gar nicht mehr an das Männchen“. (Er hat ja nichts weiter getan, als ihr drei Zimmer voll Gold gesponnen, ihr das Leben gerettet, aus der Müllerstochter eine Königin gemacht und sich dafür ihr erstes Kind versprechen lassen. Aber das ist ihr alles entfallen. Man hat irgendwie das Gefühl, daß Nachdenken nicht gerade ihre Stärke ist. Erinnern sie sich noch daran, wie der König ihr versprach, sie zu heiraten? Sie kannte ihn erst seit zwei Tagen, und er hatte dreimal gedroht, sie umzubringen. Sie heiratet ihn trotzdem.)
Wie dem auch sei, eines Tages kommt das Männchen und verlangt das Kind, das sie ihm versprochen hat. Die Königin ist außer sich und bietet ihm alle Reichtümer des Königreiches. (Das ist so ihre Art zu denken. Hier ist ein Mann, der Stroh zu Gold spinnen kann, und sie bietet ihm Geld.)
Aber das Männchen will nicht. „Nein“, sagt er, „etwas Lebendiges ist mir lieber als alle Schätze der Welt.“ (Ich finde das rührend. Dieser kleine Kerl hat Herz. Er ist überhaupt die einzige Figur in dieser Geschichte, die ein paar gute Eigenschaften aufzuweisen hat.)
Die Königin tut, was sie in solchen Fällen immer tut: sie weint. Das Männchen hat daraufhin Mitleid mit ihr und sagt, wenn sie binnen drei Tagen herausbekomme, wie er heißt, könne sie das Kind behalten. (Er hat das, versteht sich, gar nicht nötig. Er will ihr nur noch eine Chance geben.)
Die Königin schickt also einen Boten aus, der ihr alle Namen bringen soll, die er finden kann, aber der richtige ist nicht dabei. (Was der König die ganze Zeit macht, weiß ich nicht. Wenn meine Frau plötzlich Boten losschickte, die im ganzen Land nach Namen suchen, würde ich fragen, was das heißen soll.)
Am dritten Tag sieht der Bote das Männchen und hört, daß es Rumpelstilzchen heißt. Die Königin ist natürlich froh. Kurz darauf erscheint das Männchen und erkundigt sich, ob sie seinen Namen weiß.
(Jetzt geht es um das Schicksal ihres Kindes. Das ist gewiß nicht der Augenblick, Späßchen zu machen. Aber die Königin muß ihren Triumph auskosten.) Sie fragt, ob er Kunz heiße. Nein. Oder Heinz? Nein. „Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“ (Ich kann sie förmlich hören – diesen selbstgefälligen Ton, den Frauen anschlagen, wenn sie zufällig Oberwasser haben.) Das Männchen ist außer sich vor Wut, stampft den Fuß in den Boden, reißt sich in zwei Stücke, und es ist aus mit ihm.
(Weiter geht das Märchen nicht, aber das kann ja unmöglich alles sein. Seit dem letzten Schub Gold ist mehr als ein Jahr vergangen, und der König sagt: „Königin, weshalb spinnst du mir kein Gold mehr? Vor unserer Hochzeit hast du das immerzu getan.“ – „Das war nicht ich, sondern ein  Männchen, das Rumpelstilzchen geheißen hat“, erwidert sie und erzählt ihm die ganze Geschichte. Der König ist ziemlich aufgebracht. „Willst du damit sagen, daß du drei Nächte mit einem Troll verbracht hast?“ – „Er hat nur gesponnen“, entgegnet sie. „Und ein Jahr später kommt er und will das Kind“, sagt der König. „Eine prächtige Geschichte!“ – „Es ist die reine Wahrheit“, antwortet sie. „Du willst mir einreden, ihr habt nur gesponnen?“ Der König reißt sich die Krone vom Kopf und schleudert sie auf den Fußboden. „Für wie dumm hältst du mich eigentlich?“ – „Na ja …“, sagt sie, und so weiter und so fort …)

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Eine Antwort zu Die wiedergefundene Textstelle: „… daß ich Rumpelstilzchen heiß‘“

  1. Burkhard Heidt sagt:

    Das ist für mich die beste und auch einleuchtendste Interpretation dieses Märchens! Ich mag das einfach! Ist ganz toll auf den/ die Punkt(e) gebracht!

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