Die wiedergefundene Textstelle: Plädoyer gegen Dr. Borsig

Die Blütezeit des Radios war die kürzeste aller kulturellen Blütezeiten, hat der Rundfunkautor Norman Corwin einmal konstatiert. Etwa 15 Jahre habe sie gedauert. Das deutsche Hörspiel war einige Jahre später für etwa ebensolange Zeit eine Kunstgattung, der große Aufmerksamkeit bei Feuilleton und Publikum und die Mühe namhafter Autoren zuteilwurde. Nach dem Krieg waren Großschriftsteller wie Ingeborg Bachmann und Alfred Andersch schwerpunktmäßig in diesem Medium aktiv, Günter Eich fand hier sogar seine eigentliche Bestimmung. Zu Heinrich Bölls Beiträgen gehört „Zum Tee bei Dr. Borsig“ (1955), deren Titel mich sogleich an seine Mediensatire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ denken ließ. Ganz so komödiantisch ist dieser Text nicht, doch er beginnt recht flockig und vielversprechend. Die ab der zweiten Szene auftretenden weiblichen Figuren bringen einen pathetischeren Tonfall mit: Franziska, die Braut des Dichters Robert, der von dem chemischen Groß-Unternehmen Oramag für die Industriewerbung gekauft werden soll, und Frau Borsig, die Gattin des Direktors, der Robert bei besagter Teestunde überreden möchte.
Beide Damen reden so bedeutsam daher, als wären sie aus einer Brecht-Parodie im Nachbar-Atelier zugeschaltet. Ihre Beschwörungen des jungen Helden, sich den Verlockungen des Geldes zu widersetzen, sind jedoch nicht frei von hübschen Metaphern. Diese seien hier einmal aus dem Kontext herausgenommen. Auch der Wegfall des hohen Tons der 1961 sentstandenen DDR-Produktion von „Zum Tee bei Dr. Borsig“ könnte der Botschaft zugutekommen.

Ich rate Ihnen, gehen Sie ans Telefon, rufen Sie sich ein Taxi! Warum bleiben Sie noch hier? Geben Sie Acht mit der Zeit! Stunden vertan, Tage verpafft wie eine Zigarette. Jahre gehen an Ihnen vorüber wie ein mittelmäßiger Film, und eines Tages sehen Sie, dass Sie Töchter haben, die aussehen wie Filmstars, die Ihnen immer unsympathisch waren! Es bleibt Ihnen nichts als das, was man ein „geschmackvolles Heim“ nennt: Sauberkeit, Ordnung, alles am rechten Platz, und morgens – wenn Sie erwachen – der Brechreiz, von dem Sie nicht wissen, woher er wohl kommen mag.
Wollen Sie nicht der erste Mensch sein, der einen Rat annimmt?
Sie sind wie die dummen Jungen, die wissen wollen, wie der Krieg ist, obwohl ihre Väter Ihnen erzählt haben, wie er ist: schmutzig und sinnlos! Verklärt nur durch die Toten, Engel, die im Schlamm erstickten.
Wollen Sie den tödlichen Kreislauf nicht unterbrechen? Nicht erfahren, nicht wissen, sondern glauben, dass die Zeit, die Sie beim Tee verbringen, verschwendet ist!

Lassen Sie mich noch etwas sagen, was mein Vater mir schrieb, bevor er starb.  „Als ich jung war“, schrieb mir mein Vater, „lernte ich unrasierte Schwindler kennen: Männer, die schlechte Bilder malten, schlechte Verse schrieben, Männer, die Rasierklingen mit einem Wert von 2 Pfennigen für 10 Pfennige verkauften. Später lebte ich in einer Welt, wo die Schwindler rasiert waren: Männer, die schlechte Bilder malten, schlechte Verse schrieben, Männer, die Gegenstände mit einem Wert von 2 Pfennigen für eine Mark verkauften. Als ich älter wurde, zog ich die Welt der unrasierten Schwindler wieder der der rasierten vor.“

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