Der Song des Tages: „Going To Heaven On A Mule“

betr.: 67. Todestag von Al Jolson

„Going To Heaven On A Mule“ ist ein Paradebeispiel für die wandelbare Rezeption von Musik unter gesellschaftlichen Gesichtspunkten und das Spannungsfeld zwischen Kultur und Politik.
Als Al Jolson diesen Song in der Filmversion seiner Broadway-Show „The Wonder Bar“ für die Nachwelt festhielt, war sein Stern bereits im Sinken begriffen. Der Star des „ersten amerikanischen Tonfilms“, der einstige „größte Entertainer der Welt“ hatte zwei Jahre zuvor aufgehört, Plattenaufnahmen zu machen, und es mag ihn gewurmt haben, von seinem Protegé Ruby Keeler überflügelt worden zu sein. Immerhin: Geldsorgen hatte er nicht, und bis zu seinem Tod blieb er eine angesehene Größe des Showgeschäfts.

„Going To Heaven On A Mule“ ist ein Liedvortrag in der Maske der Minstrel Show, die Jolson auf dem Höhepunkt seines Ruhmes häufiger angelegt hat. Diese Art weißer Entertainer, sich als Schwarze zu schminken, verweist in die düstersten Zeiten der bis heute längst nicht überwundenen Rassentrennung, war aber auch Teil eines allmählichen Fortschritts in der Kunst, der dem gesellschaftlichen vorausgegangen ist.* Dass die Diskussion um den Interpreten, den „kontroversen“ Künstler Al Jolson heute nicht breiter und leidenschaftlicher geführt wird, liegt an dem Vergessen, in dem er, seine Zeit und sein Werk insgesamt versunken sind. Eine solche Diskussion hätte auch damit zu kämpfen, dass sich die Nachwelt für die Details des Zeitkolorits nicht interessiert und Songs wie dem heute erinnerten gern pauschal absichtsvolles Ressentiment unterstellt.

Der Filmszene aus „Wonder Bar“ (deutsch: „Eine Nacht in Paris“), in der Jolson den Song vorträgt, wird selbst auf der Homepage des Senders „Turner Classic Movies“ (wo ich den Film vor vielen Jahren erstmals sah) als „cringe-makingly appalling“ bezeichnet. Die hier abgebildete Vorstellung vom Jenseits mag in der Tat haarsträubend wirken, doch sie gesteht – im Gegensatz zur Amtskirche – den Schwarzen ausdrücklich einen Himmel zu.**
Von der Komposition selbst wird in der Regel gar nicht gesprochen, hin und wieder wird ihr im Vorbeigehen jede Qualität abgesprochen (ein wichtiges Cartoon-Quellenwerk bezeichnet den Song als „glotzäugig“), als müsse eine notorische Shownummer auch künstlerisch missglückt sein. (Es gibt eindrucksvolle Gegenbeispiele …) Nur so viel: die Autoren sind Al Dubin (Text) und Harry Warren (Musik), die die wichtigsten Filmmusicals der Großen Depression geschrieben und es mit diesem Repertoire sogar auf die Musical-Bühnen unserer Tage geschafft haben.

Wie unbeständig und schwer zu fassen gesellschaftliche Aspekte sind, illustriert eine Szene im 1. Akt von „Wonder Bar“: Ein junger Mann spricht ein Paar auf der Tanzfläche an: „Darf ich Sie ablösen?“ Die Dame ist einverstanden, doch die Frage war an den Herrn gerichtet. Die zwei Männer tanzen weiter, die Dame wendet sich pikiert ab. Barbesitzer Al Jolson, der sie Szene beobachtet hat, freut sich: „Jungs bleiben eben immer Jungs!“
Diese Szene dürfte 1934 der größere Aufreger gewesen sein.

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* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2014/12/27/musikdampfer-mit-mission/
**  In einem Interview wurde Muhammad Ali einmal gefragt, wann er bemerkt habe, in den USA als Schwarzer ein Bürger zweiter Klasse zu sein. Nachdem er dafür die 16. Klasse reklamiert hatte, erzählte er, wie er als Kind in der Kirche seine Mutter gefragt habe: „Wenn wir sterben, kommen wir dann in den Himmel?“ Als seine Mutter bejahte, fragte er weiter: „Und wo sind dann all die schwarzen Engel?“ Es fehlte nämlich nicht nur an schwarzen Engeln, sämtliche Heiligenfiguren, auch der Papst und nicht zuletzt der blonde Jesus waren weiß. „Die schwarzen Engel sind in der Küche und machen Milch und Honig für die anderen“, antwortete Alis Mutter.

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