Die wiedergefundene Textstelle: „Der Portoprinz – Einmalige Vorstellung“

Dies ist die Abschrift der letzten, unvollendet gebliebenen Theaterkritik Theodor Reizwein, wachsamer Chronist des Berliner Kulturlebens der Weimarer Republik..
In der Pause der Operette „Der Portoprinz“ wurde das Papier seinen zu Krallen verkrampften Händen entrissen, und der bleiche, schockstarre Journalist in die Hände von Spezialisten gegeben. Die Aufzeichnungen beginnen in einer makellosen Schönschrift, die sich ab der Stelle „von links tritt nun unerwartet auf …“ allmählich auflöst.
Der Star des Abends war die große Fritzi Massary, in der wichtigsten Nebenrolle war die einzige Kollegin zu sehen, die ihr in der Gunst des Publikums gefährlich werden konnte: Mara von Benzel. Nur dies eine Mal haben die erbitterten Kontrahentinnen gemeinsam auf der Bühne gestanden. Die Premiere war ein derart umjubelter Erfolg, dass die Massary schon am nächsten Morgen verkündete, das Stück nie wieder spielen zu wollen. Das beendete die knospende Karriere des Komponisten und Librettisten Jupiter Breifuß unwiderbringlich.
Neben Frau Massary war der Kritiker Reizwein – soweit wir wissen – der einzige Mensch, der sich dem Charme der thüringischen Diseuse und Schauspielerin Mara von Benzel entziehen konnte, die heute beinahe vergessen ist (siehe unten).

Nach einer Reihe von Gassenhauern, Kabarettnummern und Einaktern legt der hochbegabte Theaterautor und Komponist Jupiter Breifuß im „Pollowetzer Lustspielhaus“ in Berlin-Neukölln sein erstes abendfüllendes Werk vor. „Der Portoprinz“ ist ein kunstreiches Schauspiel, würdig, von allen Schöngeistern und all jenen, die Heiterkeit und Eskapismus zu schätzen wissen, angeschaut zu werden. Und es ist ein Abend mit Fritzi Massary! Ihr Auftritt verbreitet sogleich das gewohnte phantasievolle, poetische Flair, und als sie zu ihrer ersten Arie ansetzt, fühlt sich der geneigte Betrachter wie im Märchen kurz vor dem Wunder. „Der Portoprinz“ erzählt die Geschichte eines weiblichen Retortenmenschen, der zur Prokuristin einer Trikotagenfirma aufsteigt – ein Stoff, der sich erkennbar an dem beliebten „Golem“-Mythos orientiert. Ihre Erwecker sind der geheimnisvolle Erfinder Krollspell und seine Frau, die in der vorliegenden Inszenierung zu einer Figur verschmolzen werden: zur geheimnisvollen Erfinderin Fritzi Massary. Unterstützt von ihrem Laborgehilfen Tototoffe versucht sie, das strebsame Ungetüm wieder einzufangen und ihren krakenhaften Konzern zu zerschlagen.

Die Massary braucht nur ein Couplet, um den Saal vergessen zu machen, was in den zurückliegenden Monaten die allerheißeste Neugier auf diese Premiere geschürt hat: das Zusammentreffen der beiden leuchtendsten Sterne am Berliner Theaterhimmel: Fritzi Massary und Mara von Benzel.
Raffinierterweise wurde ihr Auftrittslied „Im Dampfbad greift nach mir ein Schneemann“ bereits im vergangenen Herbst auf Schallplatte und als Einzelausgabe herausgebracht, so dass dieser vergnügliche Vortrag für uns alle ein seliges Wiederhören bedeutet. Solche Momente muss man geschenkt bekommen, anders erhält man sie nicht!
Doch schon Minuten später ist der Augenblick gekommen, da die Welt in all ihrer Scheußlichkeit hereinbricht.
Von links tritt völlig unerwartet Mara von Benzel auf. Der Augenblick – mitten im Dialog des Kollegen Igor Schretzmeier aliasTototoffe – ist offenbar spontan gewählt, Ergebnis der freien Entscheidung einer unbezähmbaren Künstlerpersönlichkeit.
Der Text erstirbt, das Ensemble pausiert, bereit auf das zu reagieren, was folgen wird.
Ah, welch ein Anblick! Aller Blicke fallen auf ein geheimnisloses und dennoch meine dunkle Furcht erregendes Individuum. Auf einem leicht vorübergebeugten Rumpf, der sich schlenkernd und ohne jede Anspannung vorwärtsbewegt, sitzt jenes allseits geliebte Haupt, dessen Züge häufiger karikiert und porträtiert worden sind, als die jeder anderen Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, der politische Klasse, der Mickymaus oder eines Charlie Chaplin: Mara von Benzel, nicht sehr alt, aber verbraucht und eingeknittert, so als habe sie – in ihr Kostüm gehüllt – jahrelang in einem Sarkophag gelegen. Es ist ein Gesicht, das niemals weinte und das gewiss noch nie gelacht hat – wenn es auch beides auch der Bühne zu markieren versteht. Wo sie steht, beginnt das Bühnenbild an den Rändern abzusacken, als ob mit einem entscheidenden Element der Perspektive oder der Lichtverhältnisse etwas nicht stimmte. Das ist freilich nur Chimäre, ausgelöst von der unvergleichlichen Aura dieser Künstlerin.
In der ihr eigenen Manier, die Pose verrät und all meinen Widerwillen aufschreckt, reißt Frau von Benzel beide Arme in die Höhe. Sie wird für uns singen! Das Dröhnen dumpfen Einverständnisses mit dieser Abweichung vom Libretto rumpelt durch die Zuschauerreihen.
Ein strenger Blick der Diva in den Orchestergraben, ein eiliges Rascheln umsortierter Notenblätter, und es beginnt das Vorspiel des vorgezogenen Schlussliedes, einer Nummer der Massary!
(Gott sei mir gnädig – falls es im Amüsierbetrieb überhaupt so etwas wie Gnade gibt!)

Frau Benzel, die in der Öffentlichkeit über keinerlei natürliche Feinde verfügt,  hat an sich gearbeitet. Üblicherweise haucht sie mehr als dass sie sänge und entzieht sich auf diese etwas unsportliche Art den Anforderungen, die die Kunst an alle Mitwirkenden stellt. Doch nicht heute. Nach den ersten Refrainzeilen der Arie „Asche alles, was ich lasse“ steigert sich ihr tonloses Geflüster zu einem krampfartigen Geheul von wachsender Tonhöhe. Monströse, unbestimmbare Gerüche beginnen ihr zu entströmen, die außer mir niemand wahrzunehmen scheint. Und indes meine Atemwege kürzer und enger werden, sinkt das mich umgebende Publikum in eine selige Verblödung hinab. O wie ich sie alle beneide!
Als Madame von Benzel endet – auf einer sehr leisen Note, denn die Luft ist ihr frühzeitig ausgegangen – brandet minutenlanger Applaus. Rosen regnen und Konfetti. Die Kieferkochen der neben ihr stehenden, vor zorniger Ohnmacht fahl-violett angelaufenen Massary mahlen. Wie bitterer Hohn klingt mir der erste Dialogsatz, der danach von einem Herrn an die Adresse der von Benzel gerichtet wird: „Ich warne euch, schöne Frau! Was sich erhoben hat, kann wieder untergehen, was untergegangen ist, kann sich erneut erheben!“ Ein gänzlich privat wirkender Spottlaut der Angesprochenen ist die Antwort, es ist das Feixen der Finsternis!

Meine Liebe zur Musik und meine Wertschätzung der Berliner Operettenkultur kollabieren vollends ineinander, als …

Ab hier zerfällt das zunehmend krakelige Manuskript in eine nicht mehr entzifferbare Unordnung von Buchstaben. In den verbleibenden anderthalb Absätzen ist nur noch „o Schrecken, Schrecken“, „cthulhu fhtagn“ und „brandig nagende Fäulnis meiner rechten Hirnhälfte“ zu entziffern.
Der Kritiker Theodor Reizwein verstarb 1938 in einer Berliner Nervenheilanstalt, in der er die letzten Jahre zugebracht hatte, ohne eine weitere Zeile zu schreiben.
Die Spur der Mara von Benzel verliert sich mit dem Ende der Berliner Amüsierpaläste, die sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten vollzog. Medial begabte Theaterfreunde unserer Tage wollen sie immer wieder auf der Bühne gesehen haben.
Das 1877 erbaute „Pollowetzer Lustspielhaus“ in Berlin-Neukölln überstand alle Berliner Bombennächte völlig unbeschadet. Es wurde 1971 abgerissen und durch eine eingeschossige Bundeskegelbahn ersetz
t.

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