Die wiedergefundene Textstelle: Calveros Albtraum

betr.: 129. Geburtstag von Charles Chaplin

Für die Darsteller der Leichten Muse hält das Leben einen besonders üblen Alptraum bereit.* Charlie Chaplin hat ihn nacherzählt: zuerst in Romanform, dann in der Verfilmung jenes Romans namens „Footlights“, der nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, sondern als Vorstudie zum Künstlerdrama „Rampenlicht“. (Für diese Vorstudie nahm sich Chaplin insgesamt drei Jahre Zeit.)

Rampenlicht_CoversChaplin lässt sich als Romancier entdecken – spätestens im rechts abgebildeten Buch.

Es ist der drittletzte Film des Regisseurs und dennoch ein Abschiedsfilm wie aus dem Bilderbuch. Schon der Name der Hauptfigur, der alte Clown heißt Calvero (wie „Kalvarienberg“), verweist auf das nahende Ende.
Pünktlich zur deutschen Uraufführung von „Rampenlicht“ im Herbst 1954 kam im Litera-Verlag Frankfurt am Main auch der Roman heraus. Darin wird das Sujet so vorausgeschickt:

Er war reich – und wurde arm.
Er war glücklich – und wurde unglücklich.
Er war berühmt – und wurde vergessen.
Er war beliebt – und versank in Einsamkeit.

Freilich ist Chaplin Komödiant genug, den Film nicht so düster zu gestalten, wie es diese Zeilen hätten vermuten lassen. „Rampenlicht“ ist die Geschichte eines glanzvollen Comebacks kurz vor dem tragischen Ende. Im Finale des Films bietet uns Chaplin eine urkomische Vaudeville-Nummer mit Buster Keaton als Spielpartner. In dieser Szene ist vom Auditorium nichts zu hören, obwohl es hellauf begeistert ist. (Offenbar genügte Chaplin die Spekulation auf das Gelächter des Kinopublikums.)
Zu diesem Zeitpunkt der Handlung haben wir Calvero schon in dunkleren Stunden erlebt.
Der o. g. Albtraum – er beginnt mit dem Vortrag des Flohzirkusdirektor-Chansons – wird in der zeitgenössischen Übersetzung so wiedergegeben:

„… Drum juckt’s, nicht kratzen! – Man weiß nie,
vielleicht zerquetscht man ein Genie?“
Ein anspruchsloses, dem heutigen Menschen allzu naiv dünkendes Chanson. Aber es hat damals – im Sommer 1914** – ein leichter zufrieden zu stellendes Publikum, als das unserer Tage, es hat jenen Humor, der typisch englisch ist und sich in vielen der Beiträge des dem Ausländer immer etwas verwunderlich erscheinenden berühmten humoristisch-satirischen Witzblatt „Punch“ spiegelt.
Aber nicht allein deshalb wirkt es zündend, schlägt es ein, reißt es den Zuhörer zu Lachsalven, zu jubelnder, heiterer Begeisterung hin. Nein, das ist mehr -, das ist eine scheinbar mühelose und doch raffiniert kunstvolle Art, die Pointen zu setzen, sie ins rechte Licht zu heben, so daß, was eigentlich Talmi ist, glitzert und funkelt wie Diamant. Ein Stimmfall, ein Mienenspiel, eine Gestik, so von echtem Humor beflügelt, daß man einfach mitgerissen wird – nicht von einem im Grunde niveaulosen Text, sondern von der Kunst eines Mannes, hinter dem eine Persönlichkeit steckt, die genau das in Vollendung ist, was man einen großen Clown nennt -, ein großer Clown aber ist ein echter Künstler, bei dem die Routine durch das Herz beherrscht wird. Das Herz eines Kindes und eines Weisen. Und das Beglückendste ist: jeder fühlt, daß sich dieses weise Kind, dieser Weise, der sich die Kindlichkeit bewahrte, selbst wundervoll über einen komischen Text, über seine Belustigung darüber und über seine eigene Kunst herzlich amüsiert.
Das ist das Geheimnis seines Erfolges.
Nun folgt der Dressur-Akt, der Calveros grotesk-komischen (sic!) Aufputz und dem Chanson entspricht: eine Dressur-Nummer ohne Tiere, denn natürlich ist die Schachtel leer. Calvero tut nur so, als ob Phyllis und Henry existierten. Aber seine Mimik ist so ausdrucksvoll, seine Gesten sind so sprechend, so zwingend, daß jedermann im Saal sieht, wie die Tiere alle Kunststücke ausführen, die er von ihnen verlangt.
Das Publikum klatscht wie besessen, Calvero träumt, er komme aus den Kulissen zurück, um für den Beifall zu danken … und da ist es wieder, das Schreckgespenst, das seine Nächte auffrißt und ihn ausgehöhlt und ausgepumpt zurückläßt.
Als er in den Zuschauerraum hinuntersieht, aus dem ihm eben noch die Beifallsstürme entgegenbrausten – ist niemand dort. Leer, verlassen gähnt ihm der dunkle Saal entgegen. Die Sessel schneiden ihm höhnische Grimassen, und die Spiegel scheinen sich grinsend zu freuen, ihm das Bild eines menschenleeren Raumes zuzuwerfen.
Quälender Traum! Calvero will fort von der Bühne, aber er ist wie festgenagelt, kann sich nicht bewegen. Lange muß er so stehenbleiben und den unheimlichen Anblick eines leeren Theatersaales in sich aufnehmen, widerstrebend und ohnmächtig -, bis endlich das Bild zu verschwimmen beginnt und sich schließlich auflöst in das farblose Dunkel eines traumlosen Schlafes. –

Lange Zeit hatte ich bei der Lektüre dieser Passage ein ungutes Gefühl, das sich allein mit der Muffigkeit einer alten Übersetzung nicht vertreiben ließ. Könnte es nicht sein, schwante mir, dass hier ein Ghostwriter der jungen BRD – mit Genehmigung des Meisters – einen Film angeschrieben hat?
Mit dem Erscheinen des Buches „Footlights – Rampenlicht – Die Welt Charlie Chaplins“*** wird das Rätsel nicht gelöst, aber immerhin erfahren wir, dass es mehrere Romanfassungen vor dem Drehbuch gegeben hat, deren letzte wir nun lesen können. Darin fällt die betreffende Situation (bei geändertem Repertoire) knapper und eleganter aus:

Er blickt auf, als habe sich ihm eine Erscheinung offenbart. „Ich fühle mich inspiriert!“ Er schnippt rhythmisch mit den Fingern. „Ich möchte tanzen! Er beginnt, zur Musik des Sardinensongs zu steppen. Zu tosendem Beifall tanzte er von der Bühne. Er kehrte zurück und verbeugte sich unter großem Gelächter und Applaus. „Encore! Encore!“, riefen sie immer wieder von Neuem! Während er sich verbeugte, breitete sich eine seltsame Miene auf seinem Gesicht aus, denn trotz des ausufernden Gelächters und Beifalls stand er plötzlich vor einem leeren Auditorium.
Plötzlich war er wach, setzte sich auf dem Sofa auf und starrte vor sich hin. Immer noch schien der Mond. Müde ließ er sich auf das Sofa zurücksinken, schloss die Augen und schlief weiter.

Im Anschluss an dieses böse Erwachen nimmt sich Chaplin die Zeit, Calveros Lebensgeschichte zu erzählen. Das wäre ein hübscher Stoff für einen weiteren Film (ein Prequel, wie wir heute sagen) gewesen, hatte aber innerhalb von „Rampenlicht“ keine Chance, es hätte den Film fürchterlich ausgebremst.
Die Calvero-Biographie fehlt auch in der alten Buchfassung. In „Footlights – Rampenlicht“ können wir sie nun nachlesen.

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* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2018/04/08/theatermedizin/
** Der Film spielt seinerseits im Jahre 1914 und erinnert sich einer weiter zurückliegenden Zeit: der Glanzzeit der Music Hall, Ende des 19. Jahrhunderts. Das Chanson muss also weitaus älter sein. Auch dieser Fehler lässt an der Urheberschaft Chaplins Zweifel aufkommen.
*** C.Bertelsmann 2015

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