Angebote an den Volksmund: Der Schublin

Meine Tante Anneliese war immer in Bewegung. Die meiste Zeit stand sie im Kellergeschoss ihres Hauses an einer breiten Küchenzeile, wo sie ihre zahlreichen Kinder und deren Freunde und Verwandte bekochte und mit Geschichten aus ihrem Leben unterhielt. Im oberen Stockwerk befand sich eine klassische Gute Stube – ein Bereich also, den die Halbwüchsigen nicht betreten durften. Umso geselliger und volksfestartiger ging es in diesem Raum dort unten zu.
Annelieses Mann, der Onkel Sepp, war ein stämmiger, knarziger, maulfauler Schrat, der weniger wie ein Onkel, eher wie ein Opa auf mich wirkte. Anneliese hatte also das handelsübliche Standardmodell eines Gatten abgekriegt, dessen Ehelichung ausdrücklich nicht dazu gedacht war, den weiblichen Teilnehmer mit Erfüllung zu versehen oder gar glücklich zu machen.
Dennoch habe nie einen weltzufriedeneren Menschen gekannt als meine Tante Anneliese. Sie machte nicht nur das Beste aus ihrem Alltag, sie ging darin förmlich auf.
Und Tante Anneliese war sehr lustig. Der Übergang von der ironischen Verballhornung von Fremdwörtern und Eigennamen zum Ausrutscher war fließend. Ich musste darüber lachen, und meistens hatte sie dann schon vor mir damit angefangen.

Ihre schönste Sprachmutation war gewissermaßen ein Doppelkniff. Viele ältere Mitbürger dieser ländlichen Region sprachen den Namen Charlie Chaplin damals mit einem A, also „Schapplin“ aus, vermutlich, um den verbreiteten Argwohn gegen alles Englischsprachige zu würdigen. Nicht so Tante Anneliese. Sie meinte es besonders gut und machte daraus den „Schupplin“. Natürlich wurde der große Komödiant auf diese Weise nicht kritisiert oder sonstwie bewertet: er war einfach da, und er hieß eben so.
Ich ging irgendwann dazu über, dieses Wort in meinen Selbstgesprächen auf der zweiten Silbe zu betonen, so wie in „Berlin“, „Der Stechlin“ oder „Die Frau im weißen Hermelin“.
Den Begriff „Schublin“ wandte ich erstmals auf einen ihrer Söhne an, meinen Cousin Hans-Josef. Er schien mir der einzige Mensch in meinem damaligen Umfeld zu sein, der aus der tristen südwestdeutschen Einöde der 70er Jahre, aus dieser verschleppten Adenauerzeit mit ihren hautengen biografischen Programmierungen, ein wirkliches Leben herausholte. Apropos Programmierung: soweit ich weiß, war Hans-Josef Fernsehtechniker und somit eine Art Botschafter der Unterhaltungselektronik, die so wichtig war für uns unmotorisierte Landeier. Er war der erste Mensch, der mir einen Kopfhörer aufgesetzt hat. Mit dem Aufkommen des Videorecorders verfügte er über einen besonderen Wissens- und Savoir-Vivre-Vorsprung, an dem er seine Verwandtschaft mit fröhlicher Großzügigkeit teilhaben ließ. Er war ständig im deutsch-französischen Grenzland unterwegs, einem an und für sich unspektakulären Landstrich, in dem er offenbar die nettesten Menschen, die besten Restaurants und Weinlokale kannte. Zu uns, seinen deutlich jüngeren Cousins und Cousinen, sprach er immer wie zu Gleichaltrigen. Von seiner Mutter Anneliese hatte er diese Gabe geerbt, aus der Distel unserer schmucklosen Realität die verschiedensten Honigsorten zu saugen. Hildegard Knef fing diese Haltung in ihrem trotzig-kämpferischen Lied „Ich brauch kein Venedig“ ein. Hans-Josef brauchte auch kein Venedig, aber ganz ohne Kampf und Trotz.
Der Ausdruck „Lebenskünstler“ war sehr in Mode, und er hätte theoretisch zu ihm gepasst. Aber „Lebenskünstler“ klingt irgendwie miefig und wird so oft als Eigenlob verwendet – und immer gerade von „den Richtigen“ – dass ich es aus frühzeitig meinem Wortschatz gestrichen habe.
Für mich war Hans-Josef ein Schublin! So einer wollte ich auch einmal werden – sobald ich den Standort gewechselt hatte!

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