Ixen für Anfänger – Im Blindflug

Ixen – eine Technik, die in der Synchronarbeit zum Einsatz kommt – erfordert rasche und präzise Textauffassung. Diese Serie hält Sprech-Übungen bereit, um die betreffenden Instinkte zu schärfen.

betr.: 58. Jahrestag der Veröffentlichung von „To Kill A Mockingbird“ („Wer die Nachtigall stört“) / Sprechen für Software

Bei Sprachaufnahmen für Software muss man große Fantasie aufwenden, um zu wissen, wie man einen Take richtig zu interpretieren hat. Man weiß wenig bis gar nichts über die Situation, in der der Take gesprochen wird, hat – anders als ein Schauspieler, Synchron- oder Hörspielsprecher – wegen der interaktiven Struktur kaum die Möglichkeit, aus dem Fluss der Handlung Schlüsse zu ziehen, und nur in 10 % der Fälle gibt es überhaupt ein Bild des Charakters, den man zu verkörpern hat.
Die Regie jedesmal nach diesen Dingen zu fragen, ist zeitraubend und darüberhinaus sehr unsportlich, denn mit der richtigen Fokussierung auf den Text, kann man die Informationen (abgesehen vom letztgenannten Punkt) fast immer präzise zwischen den Zeilen lesen. Der Regisseur hat übrigens zumeist auch keine zusätzlichen Informationen und müsste genauso vorgehen. Am besten ist es also, man bietet gleich eine sinnvolle (d.h. wohlüberlegte) Variante an. Dann kann die Regie sofort beurteilen, ob die Sache funktioniert.

Bitte, lesen Sie diese Passage aus „To Kill A Mockingbird“ laut vor – so, dass sie einen Sinn ergibt.

Der Alte ist der böseste Mann, der jemals gelebt hat! Warum? Einfach deshalb!
Er hat einen Sohn namens Boo. Den hat er bei sich im Haus mit einer Kette gefesselt.
Da drüben, da wohnt er! Boo darf nur nachts heraus, wenn wir schlafen und die Straßen stockdunkel sind. Manchmal, wenn Du`s Fenster aufmachst, kannst Du ihn hören!
Einmal hat er bei uns an der Haustür gekratzt, aber als Atticus aufmachte, war er weg.
Er ist – nach den Fußspuren zu urteilen – zwei Meter groß und sicher vierzig Jahre alt. Er isst Eichhörnchen und Katzen, die er nachts fängt und schlingt alles roh herunter, sagen die Leute.
Er soll eine Narbe über`s Gesicht haben und weiße Haare und gelbe Zähne und ganz große und faulige…und die Augen stehen raus…und die ganze Zeit döst er vor sich hin.

Stellen Sie sich nun die selbstkritische Frage, ob sie sich die folgenden Aspekte zuvor überlegt haben:
1. Wer spricht? / Wie muss die Stimme klingen?
2. Wer ist noch anwesend? / Wem wir das alles erzählt?
3. Wann, wo und unter welchen Umständen findet die Szene statt?

Die Antworten:
1. Wer spricht?
Der Sprachstil verweist auf ein Kind. Für eine erwachsene Person wäre dies ein überaus verwirrender Vortrag. Und selbst wenn wir von einer wunderlichen erwachsenen Person ausgehen, ist die Sprache dafür zu kindlich.
2. Wer ist noch anwesend? / Wem wird das alles erzählt?
Offensichtlich handelt es sich um eine urbane Horrorgeschichte, mit der ein Kind seine Freunde beeindrucken will. Da solche Geschichten von einer gewissen Intimität leben, würde ich von einer kleinen Gruppe ausgehen, in der es möglich ist, sie konspirativ vorzutragen (böser Klatsch).
3. Wann, wo und unter welchen Umständen findet die Szene statt?
Das „da drüben“ legt nahe, dass sich die Kinder in Sichtweite des beschriebenen Hauses befinden, also nicht in ihrem Halloween-Baumhaus oder mit Taschenlampe unter der großen Bettdecke, wohin der Vortrag sonst auch gepasst hätte.
Wenn wir weiterhin davon ausgehen, dass brave Kinder nach Einbruch der Dunkelheit ins Bett gehören (so will es das Klischee bzw. die kollektive Zuschauererwartung), müsste es sich also um eine Straßenszene bei Tag handeln.

Haben Sie diese Dinge zuvor erwogen und berücksichtigt? Dann war das vermutlich ein guter Vortrag!

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