Lieblingsfilme zum Fürchten

betr.: Spätwerke in der Filmkunst* / Vorbemerkung zum morgigen Blog

Alfred Hitchcocks quasi restlose Anerkennung als Klassiker und ihre Erhebung in den Sprachgebrauch fiel mit dem Moment zusammen, da die Medienbevölkerung jederzeitigen Zugang zu einem Großteil der Filmkunst per tragbarem Gerät errang – auch zu der von Hitchcock. Leider entsagte das Publikum zur selben Zeit dem Konsum „alter Filme“ und der Lektüre von Botschaften, die 160 Zeichen übersteigen. Kaum ein Filmfreund unter 30 hat überhaupt einen Hitchcock-Film vollständig angesehen – diese Statistik mag nicht repräsentativ sein, aber es ist sehr eindrucksvoll, sie immer wieder persönlich zu erheben und zu aktualisieren.
Macht diese bedrückende Ausgangssituation nicht auch die Frage nach den Fehlschlägen des Meisters Hitchcock überflüssig? Keineswegs.
Als sein schlechtester Film gelten allgemein das Frühwerk „Riff-Piraten“ und „Der zerrissene Vorhang“, einer seiner letzten. „Marnie“ war lange Zeit umstritten, ehe er allgemein den Ruhmestaten zugeordnet wurde, auch „Vertigo“ wird höher und höher geschätzt, je länger er zurückliegt.
Doch gibt es hier eine allgemeine Tendenz?
In Frank Noacks brillantem, backsteindickem Buch über den NS-Regiestar Veit Harlan (ein ungemein fairer, gut recherchierter und gleichsam hochspannender Feuilleton-Abenteuerschinken) fand ich auf Seite 383f folgende grundsätzliche Überlegung zu diesem Thema:

Das große Spätwerk, mit dem Dichter, Maler und Komponisten ihre Laufbahn beenden, ist scheidenden Filmregisseuren in der Regel nicht vergönnt. Statt sich zu steigern, verfallen sie in Routine und Resignation. Dass sich Cecil B. DeMille („Die zehn Gebote“, 1956), Douglas Sirk („Solange es Menschen gibt“, 1959) und Pier Paolo Pasolini („Die 120 Tage von Sodom“, 1975) auf grandiose Weise vom Kino verabschiedet haben, muss als Ausnahme angesehen werden, die traurigen, bestenfalls noch akzeptablen Abschlussarbeiten von Charles Chaplin, Federico Fellini, Abel Gance, Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Victor Sjoström, Fritz Lang, G. W. Pabst, Jean Renoir oder Vittorio de Sica stehen für die Regel.**

Zunächst einmal finde ich es unfair Hitchcocks „Familiengrab“ und Chaplins „Die Gräfin von Hong Kong“ in einem Atemzug als „traurig“ und „bestenfalls noch akzeptabel“ abzuqualifizieren: zweiterer ist ein allgemein anerkannter künstlerischer Fehlschlag. Ersterem wird vor allem der Vorwurf gemacht, dass er nicht „Psycho“ ist. Weiterhin sehe ich bei Hitchcock das generelle Nachlassen der Schöpferkraft nur insofern, als sich mit dem Erreichen seines 70. Lebensjahres sein Arbeitstempo verlangsamt hat – was man ihm nicht verübeln sollte, zumal er es in seiner Karriere dennoch im Schnitt auf einen Kinofilm pro Jahr gebracht hat. Sein drittletzter Film wird (nicht zu unrecht) allgemein geschmäht, aber von mir geliebt, der folgende „Frenzy“ wird als Glanzleistung betrachtet – auch von mir, wobei mir eine bestimmte Szene seinen nochmaligen Genuss verleidet.***

Weiterhin halte ich es  für delikat, einen Film besonders zu loben (ihn also über die anderen zu stellen) und ihn eigentlich gar nicht zu mögen. Das ist in diesem Falle eine Unterstellung, aber sie wird von vielen Gesprächen genährt, die ich über die Jahre mit „Fans“ von Pasolinis „Die 120 von Sodom“**** geführt habe. Er wird nicht nur von Frank Noack sondern auch vom hochverehrten Michael Haneke als Meilenstein eingeordnet, der ihn sogar schonmal als „Lieblingsfilm“ bezeichnete, allerdings auch zugab, ihn sich kein weiteres Mal mehr anschauen zu wollen: Filmbegeisterung als lupenreine Kopfsache, als pures kulturpolitisches Statement nach dem Motto „Sollen sich doch die anderen damit rumquälen!“. Na, besten Dank! Kunst muss nicht gefallen wollen, aber sie sollte es dürfen! Und ein Film ist nicht zwangläufig wertvoll, bloß weil er von der Zensur getroffen wird; diese Leute greifen schonmal daneben – in beide Richtungen.

Ungetrübtes Entzücken über „Familiengrab“ morgen an dieser Stelle …
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* Siehe dazu auch https://blog.montyarnold.com/2018/08/01/wie-es-euch-gefaellt/
** Wenn ich dieser Darstellung auch hinsichtlich Hitchcocks und Pasolinis ausdrücklich wiederspreche, so findet sich doch ein weiteres Beispiel dafür unter https://blog.montyarnold.com/2018/06/27/10723/
*** Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2016/08/21/raserei/
**** Zugegeben: ich halte es für ausgeschlossen, diesen – abgesehen von seinem betont perversen Inhalt – schlampig gefertigten und quasipolitisch verbrämten Film wirklich zu mögen, wenn man nicht gewisse besondere Vorlieben hat. Siehe dazu https://blog.montyarnold.com/2014/11/02/dudu/

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2 Antworten zu Lieblingsfilme zum Fürchten

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