In der Umlaufbahn

Aus dem unveröffentlichten Jugendbuch „Ich will ja gar nicht mitspielen“, das eine westdeutsche Jugend in den frühen 80er Jahren beschreibt.

Auch zur Freundschaft braucht man Talent, nicht nur zu so musischen Verrichtungen wie Jonglieren oder Klavierspielen. Das habe ich begriffen, als Jonas eines Tages so schlechte Laune hatte. Ich verstand es nicht sofort an diesem Tag, doch der markierte den Beginn eines langsamen Prozess der Erkenntnis.
Jonas war mir wahnsinnig wichtig. Er war nur drei Jahre älter als ich, aber das ist ja im Knabenalter eine Menge. Ich glaube, ich war auch deshalb so stolz auf unsere Freundschaft, weil er mein ältester Freund war und ich sein jüngster.
Jonas wohnte in einem anderen Dorf – ich erinnere mich nicht einmal mehr, in welchem -, was bei den damaligen Verhältnissen in der Regel bedeutete, dass man außerhalb der Schulzeit keinen Kontakt zueinander hatte. Irgendwann hatte er damit angefangen, die großen Pausen mit mir zu verbringen, wie auch immer das gekommen war.

Als Schüler einer so viel höheren Stufe verströmte er bereits ein gewisses Charisma, obwohl wir uns in unseren Gesprächen fast nie über den Unterrichtsstoff ausgetauscht haben. Jonas lief jeden Werktag mit mir ein paarmal im Kreis, um den Schulhof herum, und erquickte mich mit seinem feinen Sarkasmus.
Hin und wieder vergab er einen Spitznamen für einen Lehrer, häufiger noch über diverse schräge Mitschüler – das hatte grundsätzlich Niveau und blieb bei mir hängen. Wenn ich mich über solche Geistesblitze kaputtlachte, verzog er nach Möglichkeit keine Miene, was ihm schwerfiel, wenn ihn die Frische der Pointe selbst herausforderte. Mein Lieblingswitz in all den Jahren bezog sich auf einen Lehrer, der an einer üblen Dialektschwäche litt. Wenn dieser Lehrer, ein Herr Kissler, sich zu einem besonders wichtigen Statement aufplusterte, geriet ihm seine Grammatik restlos abhanden. Jonas gab der so entstandenen Sprache den Namen „Kisseldütsch“ – ich lachte laut, und er verkniff es sich tapfer.
So zogen wir sommers wie winters unsere Bahn, und einmal meinte Jonas nur seufzend: „Für jede Runde eine Mark …“

Als ich 14 war und er 17, seine Volljährigkeit also in der Luft lag, verspürte ich eine gewisse Unruhe. Ob ich mich deshalb an jenem Tag so ungeschickt verhalten habe, weiß ich nicht. Es kann auch an meinem schon erwähnten mangelnden Talent gelegen haben. (…)

Dieser Beitrag wurde unter Belletristik (eigene Texte), Buchauszug, Gesellschaft, Literatur, Manuskript abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert