Der Psycho hinter dem Klassiker

betr.: 231. Jahrestag der Uraufführung von Friedrich Schillers „Don Carlos“ in Hamburg

Am 29. August 1787, kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution, wird Friedrich Schillers „Don Carlos“ in Hamburg uraufgeführt. In seinem Planspiel einer komplexen Intrige am Hof Philipps II. deckt Schiller das „geheime Räderwerk“ menschlicher Handlungen auf. Indem er die Zergliederung der Seelen innerhalb einer Gesellschaft offen legt, zeigt er Gefangene des Systems, die um Selbstbestimmung kämpfen: Domingo, der Beichtvater des Königs Philipp II., horcht den Prinzen Don Carlos aus. Der hält sich von der höfischen Gesellschaft fern, und das macht ihn verdächtig. Keiner traut keinem. Abhängig von der Macht fürchten die Chargen um ihre Position, um ihren Einfluss. Die Intrige wird zum Herrschaftsinstrument.
Don Carlos wird von Friedrich Schiller als Rebell gezeichnet, der sich nichts und niemandem unterordnen will. Dies ist ein typisches Merkmal der Charaktere aus der Zeit des Sturm und Drang, und entspricht allenfalls zufällig dem Charakter des historischen Infanten von Spanien, der 120 Jahre zuvor gelebt hat.

Erst vor zwei Jahren erschien die erste Biographie, die Don Carlos gründlich portraitiert. Darin beschreibt ein spanischer Historiker diesen als Heimgesuchten, als elendes Würstchen. Bei Don Carlos‘ Geburt stirbt die blutjunge Mutter, was ihm der 17jährige Vater nicht verzeiht. Philipp II. weilt anderswo, zuletzt in England bei seiner zweiten Frau. Erst nach deren Tod kehrt er nach Spanien zurück und lernt seinen inzwischen 14jährigen Sohn kennen; man bleibt einander fremd. Don Carlos hat unterdessen eine schreckliche Zeit hinter sich: als Linkshänder stand er im Verdacht „des Teufels“ zu sein und wurde mit den besten Absichten zwecks „Heilung“ gequält und gedemütigt. Unabhängig davon war er von Geburt an verhaltensgestört, sprach bereits als Dreijähriger von sich selbst in der dritten Person und prägte ein jähzorniges, sadistisches Wesen aus. Und etwas ungeschickt war er auch: „Ein Sonntagmittag im April des Jahres 1562 – Don Carlos lief einem jungen Mädchen hinterher, Tochter eines Palastwächters. Und man weiß bis heute nicht genau, wie es passierte, jedenfalls ist Don Carlos gestolpert und kopfüber eine Treppe hinuntergestürzt und wäre dann fast gestorben …“ – soweit eine alltäglichere Geschichte. Oder diese aus seiner Teenagerzeit: „Manchmal verkleidete er sich, klebte sich einen künstlichen Bart an und ging mit seinen Freunden auf die Straße. Bei einem dieser nächtlichen Spaziergänge kippte jemand einen Nachttopf aus dem Fenster auf die Straße – so wie das damals üblich war. Allerdings vergaß er zu rufen: ‚Wasser kommt!‘, und die Exkremente trafen den Prinzen. Don Carlos verlangte, dass derjenige, der den Nachttopf geleert hatte, getötet und sein Haus in Brand gesteckt werden solle. Da haben ihn seine Freunde einfach angelogen und behauptet, dass schon ein Priester in das Haus gegangen wäre und der Betreffende bei einer Teufelsaustreibung gestorben sei. Don Carlos hat das geglaubt und sich wieder beruhigt.“

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