Die wiedergefundene Textstelle: Eine Nacht in der „Höhle von Steenfoll“

betr.: 216. Geburtstag von Wilhelm Hauff

In der F.A.Z.-Serie „Mein Lieblingsmärchen“ begründete Dieter Bartetzko seine Wahl so:  „Ein unbarmherziges Märchen, so bedrückend und fesselnd wie das Leben: Eindringlicher als in Wilhelm Hauffs ‚Die Höhle von Steenfoll‘ kann vor Obsessionen nicht gewarnt werden. ‚Warum hat er denn nicht?‘ – Wenn Kinder diese Frage stellen und doch wissen, dass sie vergeblich ist, wird das Lieblingsmärchen geboren.“
Ohne es zu wissen, mag ich den selben Grund gehabt haben, warum ich dieses Märchen von Wilhelm Hauff nie vergessen habe; hier wie auch in Wilhelm Buschs „Eispeter“ wird ein junger Mensch dafür bestraft, dass er eine Warnung in den Wind schlägt, die alle anderen brav befolgen. (Wilhelm Hauff gibt sein Seemannsgarn als „schottländische Sage“ aus, getreu der Maxime „Bescheidenheit ist die schlimmste Form der Eitelkeit“.)

Jedenfalls habe ich mich bei Hauff wie auch bei Busch zu Tode gefürchtet, als ich da in meinem Kinderbettchen lag und vor dem Einschlafen diese Geschichten las.
Bei der „Höhle von Steenfoll“ hat mich das Auftauchen der Gespensterprozession besonders in Bann geschlagen:

Als er wieder zu sich selbst kam, hatte sich das Wetter verzogen, der Himmel war heiter, aber das Wetterleuchten dauerte noch immer fort. Er lag dicht am Fuße des Gebirges, welches dieses Tal umschloss, und er fühlte sich so zerschlagen, dass er sich kaum zu rühren vermochte. Er hörte das stillere Brausen der Brandung, und mitten drinnen eine feierliche Musik wie Kirchengesang. Diese Töne waren anfangs so schwach, dass er sie für Täuschung hielt. Aber sie ließen sich immer wieder aufs neue vernehmen, und jedesmal deutlicher und näher, und es schien ihm zuletzt, als könne er darin die Melodie eines Psalms unterscheiden, die er im vorigen Sommer an Bord eines holländischen Heringfängers gehört hatte.
Endlich unterschied er sogar Stimmen, und es deuchte ihm, als vernehme er sogar die Worte jenes Liedes. Die Stimmen waren jetzt in dem Tale, und als er sich mit Mühe zu einem Stein hingeschoben, auf den er den Kopf legte, erblickte er wirklich einen Zug von menschlichen Gestalten, von welchen diese Musik ausging und der sich gerade auf ihn zubewegte. Kummer und Angst lag auf den Gesichtern der Leute, deren Kleider von Wasser zu triefen schienen. Jetzt waren sie dicht bei ihm, und ihr Gesang schwieg. An ihrer Spitze waren mehrere Musikanten, dann mehrere Seeleute, und hinter diesen kam ein großer, starker Mann in altväterlicher, reich mit Gold besetzter Tracht mit einem Schwert an der Seite und einem langen, dicken, spanischen Rohr mit goldenem Knopf in der Hand. Im zur Linken ging ein Negerknabe, welcher seinem Herrn von Zeit zu Zeit eine lange Pfeife reichte, aus der er einige feierliche Züge tat und dann weiterschritt. Er blieb kerzengerade vor Wim stehen, und ihm zu beiden Seiten stellten sich andere, minder prächtig gekleidete Männer, welche alle Pfeifen in den Händen hatten, alle in kostbarer, aber fremdartiger Kleidung. Ein Haufen holländischer Matrosen schloss den Zug, deren jeder den Mund voll Tabak und zwischen den Zähnen ein braunes Pfeifchen hatte, das sie in düsterer Stille rauchten.
Der Fischer blickte mit Grausen auf diese sonderbare Versammlung, aber die Erwartung dessen, was da kommen werde, hielt seinen Mut aufrecht. Lange standen sie so um ihn her, und der Rauch ihrer Pfeifen erhob sich wie eine Wolke über sie, zwischen welcher die Sterne hindurchblickten. Der Kreis zog sich immer enger um Wim her, das Rauchen ward immer heftiger, und dicker die Wolke, die aus Mund und Pfeifen hervorstieg. Falke war ein kühner, verwegener Mann, er hatte sich auf Außerordentliches vorbereitet; aber als er diese unbegreifliche Menge immer näher auf sich eindringen sah, als wolle sie ihn mit ihrer Masse erdrücken, da entsank ihm der Mut, dicker Schweiß trat ihm vor die Stirne, und er glaubte, vor Angst vergehen zu müssen. Aber man denke sich erst seinen Schrecken, als er von ungefähr die Augen wandte und dicht an seinem Kopf das gelbe Männchen steif und aufrecht sitzen sah, wie er es zum erstenmal erblickt, nur dass es jetzt, als wie zum Spotte der ganzen Versammlung, auch eine Pfeife im Mund hatte. In der Todesangst, die ihn jetzt ergriff, rief er zu der Hauptperson gewendet: „Im Namen dessen, dem ihr dienet, wer seid Ihr? Und was verlangt Ihr von mir?“ Der große Mann rauchte drei Züge, feierlicher als je, gab dann die Pfeife seinem Diener und antwortete mit schreckhafter Kälte: „Ich bin Franz van der Swelder, Befehlshaber des Schiffes Carmilhan von Amsterdam, welches auf dem Heimwege von Batavia mit Mann und Maus an dieser Felsenküste zugrunde ging; dies sind meine Offiziere, dies sind meine Passagiere, und jenes meine braven Seeleute, welche alle mit mir ertranken. Warum hast du uns aus unsern tiefen Wohnungen im Meere hervorgerufen? Warum störst du unsere Ruhe?“
„Ich möchte wissen, wo die Schätze des Carmilhan liegen.“
„Am Boden des Meeres.“
„Wo?“
„In der Höhle von Steenfoll.“
„Wie soll ich sie bekommen?“
„Eine Gans taucht in den Schlund von einem Hering; sind die Schätze des Carmilhan nicht ebensoviel wert?“
„Wieviel davon werd‘ ich bekommen?“
„Mehr als du je verzehren wirst.“ Das gelbe Männchen grinste, und die Versammlung lachte laut auf. „Bist du am Ende?“ fragte der Hauptmann weiter.
„Ich bin’s. Gehab dich wohl!“
„Lebwohl, bis aufs Wiedersehen“, erwiderte der Holländer und wandte sich zum Gehen, die Musikanten traten aufs neue an die Spitze, und der ganze Zug entfernte sich in der selben Ordnung, in welcher er gekommen war, und mit demselben feierlichen Gesang, welcher mit der Entfernung immer leiser und undeutlicher wurde, bis er sich nach einiger Zeit gänzlich im Geräusche der Brandung verlor.

Dieser Beitrag wurde unter Literatur, Monty Arnold - Biographisches abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert