Die Marvels wie sie wirklich waren: Spider-Man (1)

Diese Serie mit Artikeln zur Geschichte der Marvel Comics aus dem Silver Age ist eine Übernahme aus dem Fanmagazin „Das sagte Nuff“ (2005-10). Ich bedanke mich herzlich für die Genehmigung, sie hier wiederzugeben.

Die erstaunliche Spinne (Spider-Man)
von Daniel Wamsler
http://dassagtenuff.blogspot.com/

Die Spinne Nr. 1

Die Spinne #1_Williams
Cover der deutschen Nr. 1 von „Spider-Man“ alias „Die Spinne“, erschienen im Januar 1974. Das Motiv besteht aus Titelbildelementen der US-Ausgaben „Amazing Spider-Man“ # 98 und „Fantastic Four“ # 99.

Endlich! Nach acht Jahren und 98 innerhalb der Hit-Comics des bsv erschienen Originalausgaben, erfährt der deutsche Leser wie Peter Parker zu Spider-Man wurde. Zwar gab es hier und da diverse Rückblicke auf vergangene Ereignisse, doch die Origin Story hatte der Bildschriftenverlag nie abgedruckt. Auf insgesamt elf Seiten erzählen Stan Lee und Steve Ditko wie es sich zutrug.* Storyline (diese Origin liegt auch Sam Raimis erstem „Spider-Man“-Film zugrunde, der sich erstaunlich nahe an der Comicvorlage orientiert): Peter Parker, Streber und Außenseiter, wird beim Besuch einer Physikausstellung der Midtown Highschool von einer kurz zuvor radioaktiv verstrahlten Spinne gebissen. Das Tier hatte sich an seinem seidenen Faden genau in der Sekunde von der Decke heruntergelassen, als bei einem kontrollierten Experiment kurzzeitig Strahlung frei wurde. Im Todeskampf überträgt die Spinne ihre Kräfte und Fähigkeiten auf den Schüler, in dessen Blut sich das radioaktive Spinnengift verteilt. Eher zufällig bemerkt er, dass er problemlos an Häuserwänden emporklettern und Stahl verbiegen kann. Um seine neuen Kräfte zu testen, verkleidet sich Peter und stellt sich einem Schaukampf gegen „Crusher Hogan“. Den umgebundenen Damenstrumpf, den er dabei als Maske trägt, hat er vermutlich aus Tante Mays Wäschetruhe mitgehen lassen. Nach dem Kampf engagiert ein Fernsehproduzent den Jungen für die „Ed Sullivan Show“. Mit einem selbstgebastelten Kostüm und netzversprühenden Düsen bewaffnet, begibt er sich ins Rampenlicht. Nach diesem ersten Auftritt kann er sich vor Angeboten kaum retten. In seiner Selbstverliebtheit und Hochnäsigkeit lässt er einen Dieb, der von einem Wachmann verfolgt wird, ungehindert entkommen. Ein fataler Fehler, wie sich später herausstellt. Es folgen weitere Auftritte in der Öffentlichkeit und Spider-Man avanciert zum Star. Eines Abends jedoch, als Peter von einer seiner Shows nach Hause kommt, muss er feststellen, dass sein Onkel Ben von einem Einbrecher erschossen wurde. Als Spider-Man macht er sich auf, den Verbrecher zu stellen. Dieser hat sich in einem Lagerhaus der Firma ACME (Zeichentrickfans der Warner Bros. wohlbekannt aus den „Looney Tunes“-Episoden von Bugs Bunny, Road Runner, Daffy Duck, Tweety & Sylvester, den Tiny Toons u.v.a.) am anderen Ende der Stadt verbarrikadiert. Bereits nach kurzem Kampf hat Spidey den Gegner überwältigt. Zu seinem Erstaunen stellt er fest, dass es sich um denselben Gangster handelt, den er auf den Fluren des Fernsehstudios hat entkommen lassen. In Netz verpackt, lässt er den Bösewicht abholbereit für die Polizei hängen. Voller Selbstvorwürfe trottet der junge Mann in Richtung Sonnenuntergang und weiß: aus großer Kraft folgt große Verantwortung!

Fazit: Ein unübertroffener Klassiker in der Geschichte der Superhelden – Superman wäre so etwas bestimmt nicht passiert, andere Helden hätten nicht geweint, und Lucky Luke wäre nicht mit gesenktem Haupt gen Sonnenuntergang getrottet, sondern fröhlich singend in sein nächstes Abenteuer geritten – DER Meilenstein und Wegbereiter für das aufstrebende Marvel-Universum des sogenannten „Silver Age“ der US-Comics. Für die Zeichnungen engagierte Stan Lee die richtigen Leute: Steve Ditko, der dem Helden eine zerbrechliche Persönlichkeit einhauchte für die Innenseiten und Jack Kirby, der für das Titelbild einen mächtigen Superhelden in Szene setzte. So oft diese Story auch nacherzählt wurde, kein Zeichner oder Autor konnte je die Klasse des Originals erreichen.

Was insbesondere anhand der Entstehungsgeschichten der Marvel-Helden der frühen 60er Jahre auffällt, ist der laxe Umgang mit Radioaktivität. Da werden bei einer Physikausstellung mal kurz kontrollierte (!) radioaktive Strahlen freigelassen, ein Junge kann mit seinem Wagen ungehindert auf ein atomares Testgelände in der Wüste fahren, ein anderer wird bei einem Unfall mit einem ungesicherten Laster, der samt seiner strahlenden Ladung umkippt blind, vier Freunde kapern eine Rakete der US-Regierung und fliegen damit ins All, wo sie ebenfalls von enormen Strahlendosen beschossen werden, usw … Die Kritik, die Stan Lee damit an der Gesellschaft äußert, bleibt oftmals hinter den spannenden Storys verborgen. Man hatte einfach noch nicht den heutigen Wissensstand erreicht.

Die Williams-Version

Die Spinne Nr. 1 „Die Spinne“ (Januar 1974)
Die deutsche Titelangabe im „Spider-Man Index“ von Marvel Deutschland aus „Das fehlende Jahr“-Schuber: „Der Bücherwurm wird zur Spinne“ bezieht sich aufs Cover, ist allerdings nicht ganz korrekt, da der Name des Bücherwurms „Peter Parker“ fehlt und es „zu der“ heißen muss.
Cover der deutschen Nummer 1:
Leider verwendete man für Die Spinne Nr. 1 nicht das von Jack Kirby in Szene gesetzte Originalcover von „Amazing Fantasy“ # 15, sondern eine bearbeitete Version des Titelbilds von ASM # 98 (das spätere Williams-Heft Nr. 99) des damals vor allem durch seine Arbeiten innerhalb der DC-Serie „Green Lantern“ bekannten Zeichners Gil Kane. Schriftzug und Signet übernahm man von den bereits unter dem Verlagsnamen Williams erschienenen letzten Ausgaben der Hit Comics bzw. „Superhelden“-Reihe „Die Spinne“ (Nr. 252-254). Allerdings „kippte“ man den „Die Spinne“-Schriftzug auf der linken Seite leicht nach unten, so dass das gezeichnete Netz im Hintergrund nicht mehr ganz bis zur oberen Heftkante reichte. Das Superhelden-Signet wurde durch den Aufdruck „Marvel Comics“ ersetzt, wobei man auf den Hinweis „… is a trademark of the Marvel Group“ verzichtete. Dieser wurde erst ab den Heften mit dem größeren Signet („Die Spinne“ Nr. 68) in ähnlicher Form wieder eingefügt.
Der Grüne Kobold, den die neuen Leser noch nicht kannten bzw. kennen konnten, wurde vom Cover entfernt und durch den Helden aus der Zweitgeschichte, Prinz Namor – hier als „Aquarius“ – ersetzt. Die Schatten im blauen Teil von Spider-Mans Kostüm waren nachgezeichnet, vermutlich um seine Muskeln noch größer erscheinen zu lassen (oder wesentlich wahrscheinlicher: weil die Vorlage des Druckfilms schlecht war). Sein Gürtel war schwarz anstatt rot und ohne das übliche Netzmuster. Gil Kanes Signatur überdeckte man durch eine gezackte Textblase mit der Inschrift: „Haltet Euch fest, Leute! Jetzt kommt die Spinne!“. Sehr passend, da Spider-Man sich offenbar auch nicht festhalten konnte und deshalb die Wand eines Hochhauses herunterrutscht. Die coolen Löcher vor den Riefen, die er dabei hinterlässt, wurden erst für Williams Nr. 99 hinzugefügt. Was leider in keiner der beiden deutschen Versionen (Williams/Panini) sichtbar ist, ist Spider-Mans linker kleiner Finger der am US-Signet vorbeischrammt und dabei Spuren im Marvel-Comics-Schriftzug hinterlässt.

Cover-Ausschnitt Spider-Man #98

Im Kreis für den Titel „The Goblin’s Power!“ bzw. „Des Kobolds Kraft!“, steht auch der Titel dieser Erstausgabe: „Der Bücherwurm Peter Parker wird zu der Spinne!“ Für Aquarius, dessen Namen man wohl aus Aktualitätsgründen von Sub-Mariner (die „Yellow Submarine“-Zeit der Beatles war vorbei, Musicals wie „Hair“ und Songs wie „Aquarius“ und „Let The Sunshine In“ waren vermutlich eher angesagt) in Aquarius änderte, ließ man eine von den Sprechblasen des Grünen Kobolds stehen und fügte eine zweite hinzu. Darin war aus Namors Mund zu lesen: „Prinz Namor, der Held von Atlantis kehrt in sein Reich zurück!“ und „Zu spät, Verräter! Aquarius naht!“, was irgendwie wenig Sinn zu ergeben scheint. Die andere (für die spätere Williams-Ausgabe und US-Nachdrucke zweigeteilte, im Original einteilige) Sprechblase des Kobolds wurde vom Wasserstrahl, aus dem Namor mitten in der Luft und mehrere Stockwerke hoch (!) emporsteigt, verdeckt. Der aufsteigende Rauch aus dem Düsengleiter des Kobolds wurde ebenfalls entfernt und die entsprechenden verdeckten Stellen nachgezeichnet. Die für den Druck verwendeten Farben wirken hier aufgrund des besseren Papiers wesentlich kraftvoller als bei Williams‘ „Die Spinne“ Nr. 99. Gelb und Rot wurden im Schriftzug der Hefte übrigens genau umgekehrt verwendet (Die Spinne Nr. 1: rote Schrift mit gelb unterlegtem Schatten). Wer das Titelbild von ASM # 98 in den Originalfarben betrachten möchte, der sollte sich entweder Hit-Comics „Die Spinne“ Nr. 235 oder die US-Ausgabe besorgen.

Forts. folgt___________________
* Im Originalbild mit neuer Übersetzung nachzuvollziehen in dieser zeitgenössischen Panini-Leseprobe: http://www.mycomics.de/comic-pages/9980-spider-man-erstaunliche-abenteuer-die-spider-man-anthologie.html#page/2/mode/2up

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