The Man vs. The King (2)

Fortsetzung vom 28.8.2019

Dieser Artikel geht der Frage nach, wie groß bzw. unverzichtbar Stan Lees kreativer Anteil am Erfolg der Marvel Comics ist und was ein Gigant wie Jack Kirby ohne seine Instruktionen wert gewesen wäre.

Ein König auf Abwegen

Jack-Kirby-Kamandi-The-Last-Boy-On-Earth-Artists-Edition-coverUnzweifelhaft ein grandioser Plot: ein Teenager, der auf YouTube heute tolle Klickzahlen hätte, in einer dystopischen Welt, wie sie uns bevorsteht, wenn wir so weitermachen: „Kamandi – The Last Boy On Earth“. Cover des ersten Bandes der „Artist’s Edition“ mit Faksimiles in Originalgröße (IDW Publishing 2015).

Anfang der 70er lockte der wichtigste Marvel-Konkurrent DC Jack Kirby mit der Aussicht auf größere künstlerische Freiheit aus dem „Haus der Ideen“ fort. Das Zerbrechen des Dream-Teams Stan „The Man“ / „King“ Kirby wurde von der Leserschaft mit Interesse verfolgt.
Kirby durfte bei seinem neuen Arbeitgeber ohne Einmischung ein Projekt verwirklichen, das ihn zu diesem Zeitpunkt schon vier Jahre lang beschäftigt haben will. Er entwarf unter dem Obertitel „Fourth World“ in parallel laufenden Serien eine futuristische Version der Ragnarök, der Sage vom Untergang der nordischen Götter („Thor“ ließ grüßen). In der Reihe „New Gods“ beschrieb er die Welt, die nach der Katastrophe entsteht. Die Welt der toten Götter spaltet sich auf in zwei Schwesterplaneten: „New Genesis“ und „Apokolips“. Von der böseren der beiden kommt „Darkseid vom Apokolips“ auf die Erde, wo er den Schlüssel für die absolute psychische Macht über alles Lebende vermutet. Seine Gegenspieler vom guten Planeten New Genesis sind die ebenfalls eingetroffenen „Forever People“ – etwa der junge Krieger Orion und der Entfesselungskünstler Mister Miracle. Orion muss erfahren, dass Darkseid sein Vater ist. (Das einzige, was George Lucas nicht bei Marvel geklaut hat, hat er also bei einem Marvel-Künstler im Exil geklaut.)
Kosmischer als die Schlacht, die er da entfesselte, war Jack Kirbys Output: die vier Serien bestanden aus 55 Einzelheften (gut 1200 Seiten) in etwas mehr als zweieinhalb Jahren. Die Resonanz enttäuschte ihn ebenso wie den Verlag. Bei seinem nächsten Projekt musste Kirby sich nun doch ein wenig reinreden lassen.
Sein Redakteur Carmine Infantino wünschte sich „sowas wie ‚Planet der Affen’“. Aus dieser Vorgabe entstand „Kamandi – The Last Boy On Earth“. Kirby schrieb und zeichnete 40 Ausgaben, ehe er zu Marvel zurückkehrte.
Kamandi ist ein Junge, der in einem unterirdischen Bunkersystem von seinem Großvater aufgezogen wurde. Eine nicht näher erläuterte kriegerische Katastrophe hat die Erde einige Generationen zuvor verwüstet. Nun, da die Strahlenbelastung abgeklungen ist, erkundet der topfitte Teenager die verwilderte Oberfläche. (Bereits die Eröffnungsszene mit der halbversunkenen Freiheitsstatue dürfte Mr. Infantino entzückt haben.) Bei seiner Rückkehr in den Unterschlupf findet Kamandi seinen Großvater ermordet – von intelligenten Tieren, die nun die Erde beherrschen. Mensch und Tier haben die Rollen getauscht.
In den folgenden Abenteuern muss sich der Junge im Kampf mit intelligenten Gorillas messen, wird von Tierhorden gehetzt und bekommt es mit einer Bande von Chicagoer Gangster-Robotern zu tun (die an die „Raumschiff Enterprise“-Episode „Epigonen“ sowie an Lees/Kirbys Marvel-Abenteuer „Der Skrull auf Sklavenjagd“ erinnern). Auch die primitiven Menschenhorden, die die Erde nunmehr bevölkern, sind Kamandi übel gesonnen.  Immerhin sein Mutantenfreund Ben Boxer steht ihm bei.

Inhaltlich sind diese Abenteuer wirkliche DC-Comics: sie vernachlässigen die dramaturgische Geschlossenheit und die Finesse in der Figurenzeichnung und müssen auf den anspielungsreichen Humor Stan Lees sowie auf die köstlichen Interaktionen mit anderen Marvel-(und DC-)Helden verzichten. Das Konzept „jugendlicher Held in den Trümmern unserer Zivilisation“ ist heute (45 Jahre später) auf der Höhe von Zeit und Zeitgeist. Die Anklänge der Story an „Die Insel des Dr. Moreau“ passen zur aktuellen Debatte um Genmanipulation und sorgen für ein trendiges Fantasy-Element.

2006 wurde „Kamandi“ als amerikanische Omnibus-Ausgabe vorgelegt (mit den ersten 40, von Kirby verantworteten Ausgaben), 2017 brachte DC eine 12teilige Heftreihe mit neuem Material heraus. Außerdem wurden die ersten klassischen „Kamandi“-Heftnummern als großformatige Faksimile-Ausgaben vorgelegt. Darin kommt ihr offensichtlichster Mangel besonders gut zur Geltung: die Arbeit des Tuschers Mike Royer, der auch das Lettering und die Herausgabe der Omnibus-Ausgabe besorgte. Royer wurde auf Kirbys ausdrücklichen Wunsch verpflichtet. Seine Reinzeichnungen sind von einer Qualität, die in Taschenbuchgröße möglicherweise durchgegangen wäre. Im Heftformat wirken sie schludrig und provisorisch, eher wie eine Parodie und wecken schmerzliche Erinnerungen an die Künstler, die Kirby bei Marvel getuscht haben. Man denkt an Joe Sinnott („Die Fantastischen Vier“), der keinerlei Stilbruch erkennen lässt, wenn man Kirbys Vorlagen als Maßstab nimmt. (Der Meister sah das anders und beklagte die „Aufweichung“, die seiner Arbeit bei Marvel widerfahren sei.)  Da wäre Vince Colletta („Thor“) zu nennen, dessen feiner Strich mit Kirbys wuchtigen Proportionen erstaunlich gut harmonierte. (Colletta wurde von vielen Zeichnern abgelehnt, da er hin und wieder Bildteile ausließ, um sich die Arbeit zu erleichtern, was freilich eine üble Manipulation darstellt.) Möglicherweise vergisst man in dieser Reihe Bill Everett, im Golden Age der Erfinder des Sub-Mariners. Seine wenigen Kirby-Seiten für den „Hulk“ weisen ihn nicht nur als idealen Kirby-Interpreten aus, sondern auch als einen der besten Inker überhaupt.

Die im Internet zugänglichen Beurteilungen des „Kamandi“ sind überwiegend positiv, doch eher von der generellen Bewunderung für ihren Schöpfer getragen als von der für dieses Werk. So als ob sich Kirbys Non-Marvels einer kritischen Analyse einfach entzögen. Daniel Wamsler – Herausgeber des hervorragenden Fanmagazins „Das sagte Nuff“ und regelmäßiger Gast dieses Blogs – beurteilt diese Arbeiten und „Kamadi“ im Besonderen – als „unlesbar“. (Er ist unverdächtig, diesen Künstler nicht zu lieben, was schon sein Pseudonym Jacob Kurtzberg nahelegt.)

Nach seinem Zwischenspiel bei DC kehrte Jack Kirby für einige Jahre zu Stan Lee zurück (– „Jack’s Back!“ jubelte das Editorial). Die letzte gemeinsame Arbeit der beiden war 1978 „Marvels erste Graphic Novel“, ein Abenteuer des Kirby-Geschöpfes „Silver Surfer“. Als sein Vertrag auslief, zog Kirby an die Westküste und betrieb das Weiterleben seiner Superhelden bei Hanna-Barbera („Familie Feuerstein“) im minimalanimierten Trickfilm. Das kam in künstlerischer Hinsicht dem Altenteil gleich, war aber wenigstens gut bezahlt.*

Die epic battle „Jack gegen Stan“ versandete in einem Stellvertreterkrieg. Kirbys Kinder Susan, Barbara und Neal versuchten nach seinem Tod, Ansprüche an den zwischen 1958 und 1963 entstandenen Figuren anzumelden. Das Gericht entschied zugunsten von Marvel Characters Inc, und auch die Berufung scheiterte. Als Freiberufler, der von zu Hause aus gearbeitet und seine Arbeitszeit selbst bestimmt habe, sei der Künstler mit seinem Honorar ausreichend abgefunden.
Insgesamt hat der alte Knabe es besser getroffen als etwa Bill Mantlo, der Miterfinder des beliebten Waschbären Rocket Raccoon. Mantlo ist ein Pflegefall, seit ihn ein Unbekannter über den Haufen gefahren hat. Der Konzern unterstützt ihn nicht, Bills Bruder muss im Internet das nötige Geld für seinen Lebensunterhalt zusammenbetteln. Der historische Betrug an den Superman-Erfindern Siegel & Shuster durch ihren Verleger ist inzwischen selbst Gegenstand einer Comicerzählung.

Epilog – Der Tratsch als seriöser Rezeptionsfaktor

Nach knapp 30 gemeinsamen Jahren geht man sich auch schon mal auf die Nerven, zumal wenn sich der Jüngere der beiden zum Chef des Älteren entwickelt.
Stan und Jack hatten im Vorortzug die selbe Strecke auf der Heimfahrt vom Marvel-Office. John Romita, der auch mitfuhr, bekam viele ihrer Plot-Besprechungen mit. Später beschrieb er den Mentalitätsunterschied der alten Weggefährten so: „Sie redeten aneinander vorbei, keiner hörte dem anderen richtig zu!“
Eine Anekdote um einen anderen kritischen Kollegen ist hier aufschlussreich. In seiner kurzen, verdienstvollen Zeit bei Marvel stänkerte Wallace Wood unablässig gegen seinen Boss und dessen „Marvel-Methode“. Als er gefragt wurde, was ihn an Lee eigentlich so aufrege, wich er immerzu aus. Schließlich presste man die Begründung aus ihm heraus: „Der Kerl ist immer so nett. Da kann doch etwas nicht stimmen!“
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* Mehr dazu unter https://blog.montyarnold.com/2017/03/22/the-later-animated-years-jack-kirby-beim-fernsehen/

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Eine Antwort zu The Man vs. The King (2)

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